Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
nicht davon ablenken zu lassen. »Fürchte dich nicht – du kannst nur einmal sterben. Ein Lebensmotto?« Er registrierte den Hauch eines Lächelns, ein leichtes Zucken der Mundwinkel, die zugleich amüsiert und bitter wirkten.
»Die erste Hälfte ist eine Mahnung an mich selbst«, gab sie zu. »Und die zweite Hälfte stimmt nicht.« Dann schob sie sich an ihm vorbei zur Kasse. Steve riss sich von den Snowboards los, um ihr Geld in Empfang zu nehmen, und warf dann Mark einen feixenden Blick zu, der andeutete, dass er ganz genau wusste, an welcher Art »Konkurrenzstudie« Mark wirklich interessiert war.
Mark gab sich gleichgültig, als Ardeth ihr Wechselgeld in Empfang nahm, öffnete ihr dann die Tür und folgte ihr nach draußen. Sie dankte ihm mit einem kurzen Lächeln, schien aber sonst nicht an ihm interessiert, als sie beide auf die Straße zugingen. Sag etwas, sag doch etwas, du Idiot, drängte ihn eine innere Stimme. Ehe sie wieder verschwindet.
Und dann überkam ihn ein Anflug verzweifelter Inspiration. »Ich habe über Ihr Problem nachgedacht … Sie wissen schon, Ihre Sonnenallergie.« Sie blieb stehen und sah ihn an, und er konnte in ihrem Blick eine Art widerstrebende Neugierde sehen. »Ich nehme gerade meine Pause, aber ich habe ein paar Minuten Zeit. Ich wollte eine Tasse Kaffee trinken. Kommen Sie doch mit, dann erkläre ich es Ihnen.«
»Na schön«, sagte sie nach einem endlosen Augenblick. »Danke.«
Mark hauchte ein kleines Dankgebet – und sprach dann ein viel größeres zum Schutzgott der Bergsteiger und Narren und flehte ihn an, ihm eine Lösung ihres Problems einfallen zu lassen, ehe ihr Kaffee kalt geworden war.
Am Ende war nur er es, der Kaffee trank, als sie sich an einen Ecktisch setzten. Und er hatte eine Lösung.
»Auf der anderen Seite des Tunnel Mountains gibt es ein paar Aufstiege. Derzeit liegen sie ab circa vier Uhr im Schatten und um sieben im Dunkeln. Bis es wirklich dunkel ist, könnten Sie die meisten davon schaffen.« Von plötzlicher Begeisterung beflügelt, holte er einen Kugelschreiber aus der Tasche, sprang auf, um sich ein Blatt Papier von der leicht verwirrten Kellnerin geben zu lassen, und fing an, den Berg zu skizzieren. »Das hier ist die Südwestecke, und hier drüben ist Südosten.« Sein Stift zeichnete die lange Flanke des Bergs nach und fügte auf der Spitze ein paar winzige Bäume hinzu. »Hier im Südwesten sind die Gondarouten, Soulier und Mark One. Und hier drüben«, sein Stift verharrte an der Südostecke, »ist Gooseberry. Die Route blickt überwiegend nach Osten, befindet sich also vom späten Nachmittag an im Schatten. Sie ist ein wenig kompliziert.« Die Rückseite des Blattes füllte sich mit Strichen und Kringeln, die Wandstufen, Simse und Kanzeln darstellen sollten.
»Und welchen Schwierigkeitsgrad haben diese Routen?«, fragte Ardeth und beugte sich über ihn, um die langsam Gestalt annehmende Karte zu studieren.
»Zumeist 5,5 bis 5,7.«
»Und das bedeutet?«
»Mäßig.«
»Also eine mäßige Chance, mich umzubringen?«
»Mäßig schwierig, mit einer ganz geringen Chance, sich umzubringen, wenn Sie es richtig machen«, korrigierte er sie grinsend.
»Und das bedeutet?«
»Mit der richtigen Ausrüstung. Und mit jemandem, der weiß, was er tut.«
»Zum Beispiel mit Ihnen?« Er blickte von seiner Skizze auf und sah ihr in die Augen.
»Wenn Sie Lust haben«, sagte er und merkte dann, wie er den Atem anhielt, um auf ihre Antwort zu warten. Ihr Blick wandte sich wieder dem geheimnisvollen Gekritzel zu.
»Könnte man es auch im Mondlicht schaffen?« Er entließ den Atem aus seinen Lungen und runzelte die Stirn. Er dachte daran, wann er die Route zuletzt geklettert war. Am liebsten war er sie an trägen, sonnigen Vormittagen geklettert, wenn sein Ehrgeiz ihn nicht zu schwierigeren Partien gedrängt hatte. Er versuchte in Gedanken, die brennende Hitze der Sonne gegen das kühle Licht des Mondes zu tauschen.
»Möglich ist es, ganz besonders mit einer Stirnlampe«, räumte er ein. »Aber es wird nicht empfohlen.«
»Könnte man es auch solo schaffen?«
»Die meisten sind irgendwann einmal solo bezwungen worden. Von Leuten, die genau Bescheid wussten. Tagsüber«, fügte er dann hinzu, voll Misstrauen für ihre Fragen. Er versuchte zum ersten Mal auszuloten, weshalb sie sie wohl stellen mochte. Sie hatte doch sicherlich nicht vor, die Tour solo im Mondlicht zu klettern? Nur dass ihre Fragen genau danach klangen, ganz so als würde sie eben
Weitere Kostenlose Bücher