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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Baker
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letzten fünfhundert Jahren in Hunderten von Galerien und Salons auf dieses unverbindliche Wort zurückgezogen hatte.
    »Mir gefällt es«, verkündete Ardeth. »Ich übersehe dabei sicherlich irgendeinen wichtigen politischen oder ästhetischen Gesichtspunkt, aber es gefällt mir.« Sie gingen weiter und blieben bei der nächsten Fotografie stehen. Die Existenz des Banffer Zentrums für schöne Künste, das die Stadt von der Flanke des Tunnel Mountains überblickte, bedeutete, dass die Stadt Zugang zu einer überraschenden Vielzahl kultureller Aktivitäten hatte. Sie hatten hier auch schon einem Kammermusikkonzert beigewohnt – seine Wahl, wie Rossokow sich erinnerte. Die Fotoausstellung war Ardeths Entscheidung gewesen.
    »Also, das hier ist mehr nach meinem Geschmack«, bemerkte er. Es war eine weibliche Aktstudie in Schwarz-Weiß, und Licht und Schatten verwandelten das menschliche Fleisch in ein geschmackvolles Arrangement glatter Formen.
    »Das kann ich mir denken. Spießer.«
    »Das ist wahr. Ich bin ein alter Mann und habe deshalb auch einen altmodischen Geschmack.«
    Sie lachte und schob ihren Arm unter den seinen. »Hast du irgendwelche berühmten Künstler gekannt?«
    »In Paris bin ich einmal Delacroix begegnet. Und eine meiner Geliebten, eine wohlhabende Witwe in Florenz, wollte Cellini beauftragen, eine Büste von mir herzustellen. Ich habe abgelehnt.« Er sprach leise und in lockerem Tonfall, obwohl keiner der anderen Besucher der Galerie in ihrer Nähe stand.
    »Gibt es irgendwelche Gemälde von dir?«
    »Einmal hat ein Künstler ein kleines Porträt gemalt, er ist nicht sonderlich berühmt geworden. Das war noch vor meiner Verwandlung. Es hing in der Bibliothek meines alten Zuhauses. « Er konnte sich inzwischen kaum mehr daran erinnern. Da war bloß eine schwache Vision eines schmalen, ernst blickenden Gesichtes über einem schwarzen Gelehrtenkittel. »Ich bin solchen Versuchungen stets aus dem Weg gegangen. Es ist nicht klug, so konkrete visuelle Spuren zu hinterlassen.«
    »Also keine Fotos? Nichts aus dem neunzehnten Jahrhundert mit Gehrock und Backenbart?«
    »Ich war nicht einmal sicher, ob man mich überhaupt auf Film einfangen kann, bis . . . bis zu diesem Jahrhundert«, schloss er zartfühlend, um in ihnen nicht die Erinnerung an die Hardcore-Pornofilme wachzurufen, bei denen man ihn zur Teilnahme und sie zum Zusehen gezwungen hatte. »Und ein Backenbart würde mir wohl kaum wachsen, selbst wenn die Mode mich reizen würde.«
    »Wofür ich sehr dankbar bin«, lächelte Ardeth. Sie blieben bei der nächsten Fotografie stehen. Eine Familie posierte vor einem großen Wagen, der vor einem adretten Haus in einem Villenvorort parkte. Wie es schien, war es ein altes Schwarz-Weiß-Foto, aber der Künstler hatte es koloriert. Es hing in einem per Hand vergoldeten Rahmen und war mit seltsamen Gebilden dekoriert. Ardeth lachte, und Rossokow warf ihr einen fragenden Blick zu.
    »Einen solchen Rahmen habe ich auch einmal gemacht, als ich noch zur Grundschule ging.«
    »Was sind das für seltsame Dinge darauf?«
    »Makkaroni, die mit Goldfarbe besprüht wurden. Da siehst du, was dir erspart geblieben ist, weil du hier keine Grundschule besucht hast.«
    »Und was soll das Foto bedeuten?«
    »Es ist ein ironischer Kommentar zum Traum vom Vorstadtleben, nehme ich an. Das Foto selbst sieht aus, als würde es aus den fünfziger Jahren stammen; und manche Leute behaupten ja hartnäckig, das sei der Höhepunkt der Zivilisation gewesen.«
    »Die gute alte Zeit«, zitierte er. »Wie oft ich diese Klage schon gehört habe. Es scheint Teil der menschlichen Natur zu sein, auf irgendeine verlorene goldene Ära zurückzublicken, ob das nun die griechische Antike oder die Zeit des Römischen Imperiums oder die fünfziger Jahre sind.«
    »Goldene Zeitalter, die nie existierten«, bemerkte Ardeth.
    »Nein. Für Griechenland oder Rom kann ich nicht sprechen, auch nicht für die fünfziger Jahre, aber ich kann dir versichern, dass ich oft den Mund halten musste, wenn irgendein selbst ernannter Experte in glühenden Farben eine Zeit beschrieb, von der ich aus Erfahrung wusste, dass sie erbärmlich und gewalttätig war.«
    »Und was sagst du zur Gegenwart?«
    »Sie ist nicht die Zukunft, die man prophezeit hat. So viel steht fest. Aber ich bin auch nicht sicher, dass die Probleme dieser Zeit in irgendeiner Weise schlimmer sind als die der Vergangenheit. Das Einzige, was man zugunsten der Vergangenheit sagen kann, ist, dass

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