Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
es damals sehr viel weniger Menschen gab, und dass all das Hässliche, was diese vielen Menschen bewirkt haben, keinen so großen Einfluss auf den Rest der Welt hatte.«
»Und die Zukunft?«, fragte Ardeth, und Rossokow sah sie an.
»Wir müssen alles tun, was wir können, um zu erahnen, was geschehen wird. Um unserer eigenen Sicherheit willen. Darüber hinaus stelle ich keine Mutmaßungen an.« Damit beantwortete er die unpersönliche Frage, die er zu hören sich entschlossen hatte. Über das Schicksal der Welt konnte er mit Gleichmut sprechen. Ihre eigene Zukunft war eine ganz andere Angelegenheit. Er war dankbar, als sie zum nächsten Foto weiterzogen, einem einfachen Bild von den Bergen, das keine beunruhigenden Diskussionen auslöste.
Während sie so von einem Ausstellungsstück zum anderen schlenderten, sah Rossokow, wie Ardeth sich unter den anderen Besuchern der Galerie umsah. Er folgte ihrem Blick und registrierte die verstreuten Grüppchen von Menschen, die im Raum verteilt waren. Eine ungewöhnlich große Zahl von ihnen schien schwarze Kleidung vorzuziehen, und dann fiel ihm eine Frau mit unnatürlich kupferfarbenem Haar auf, dann eine andere, der riesige Ohrringe vom Ohrläppchen baumelten. Ardeth sagte nichts, aber er spürte, wie sich die Spannung in ihr ein wenig lockerte, als habe sie keine Angst mehr aufzufallen.
Als ob irgendjemand sie übersehen könnte, dachte er und musterte sie, als sie näher an die Fotografie vor ihnen trat, um sie genauer zu studieren. Er wusste, dass sie sich nie für so attraktiv gehalten hatte, und dass diese Überzeugung die Verwandlung beeinflusst hatte, die sie nach ihrer Wiedergeburt vollzogen hatte. Sie war jetzt vielleicht mit ihrem mitternachtsschwarzen Haar und ihrer Alabasterhaut eine beeindruckende Erscheinung. Aber wenn er an sie dachte, dann meist so, wie sie gewesen war, als man sie beide gefangen gehalten hatte: langes, blondes Haar, zerzaust und schmutzig, das Gesicht mit Staub und den Spuren ihrer Tränen verschmiert. Als er sie das erste Mal im Licht seiner wiedergewonnenen Zurechnungsfähigkeit deutlich wahrgenommen hatte, hatte er sie unsagbar schön gefunden.
Als sie jetzt von dem Bild zurücktrat, legte er den Arm um ihre Schulter und gab ihr einen Kuss, ohne Rücksicht darauf, ob etwa jemand zusah.
Nachdem sie ihren Rundgang durch die Ausstellung beendet hatten, machten sie sich auf den Weg nach unten in die Stadt. Wolken verwandelten den Himmel über ihnen in konturlose Dunkelheit, und Rossokow musste sich eingestehen, dass er in dieser Nacht keine Sterne bewundern würde. Aber neben seinem Sessel in der Wohnung wartete ein Stapel Astronomiebücher, die er sich in der Bibliothek besorgt hatte. Man konnte die Nacht schlimmer verbringen, dachte er, als in geselligem Schweigen zu lesen.
Trotzdem gab es noch Dinge zu erledigen, ehe sie die Stille ihrer Räume aufsuchen konnten. Sie mussten mehr als eine Stunde suchen, bis sie einen einsamen Elch fanden, und als sie dann zu ihrem Apartment zurückkehrten, war es schon beinahe Mitternacht.
Als Rossokow von seinem Buch aufblickte, war es beinahe vier Uhr morgens. Ardeths Stuhl war leer, und in dem kleinen Badezimmer brannte Licht. Er stand auf, ging zu der offenen Tür und lehnte sich an den Türrahmen. Sie stand vor dem fleckigen Spiegel, die Schere in der Hand und stutzte sich die Haare. Sie war nur mit einem weißen T-Shirt bekleidet, das ihr bis auf die Schenkel hing.
»Ich bin sehr froh, dass das Haar so langsam wächst, wenn man tot ist«, bemerkte sie und schenkte ihm ein flüchtiges Lächeln, ehe sie sich wieder ihrem Haar zuwandte. »Sonst würden jetzt überall die blonden Ansätze durchschimmern.« Sie seufzte, zerzauste sich die unregelmäßig geschnittenen Ponyfransen und sah ihn erneut an.
»Du bist schön.«
»Charmeur.« Sie sah wieder in den Spiegel. Ihr Gesichtsausdruck wurde ernst, und sie schien ihr Abbild nachdenklich zu betrachten.
»Ich habe dir neulich ein Geschenk gekauft«, sagte sie dann plötzlich. »Warte, ich hole es dir.«
Sie schob sich an ihm vorbei, und er trat ins Bad, um sein eigenes Abbild im Spiegel zu betrachten. Er war froh, dass der alte Mythos nicht stimmte. Es war ihm wesentlich lieber, feststellen zu können, wie er aussah, selbst wenn er die meiste Zeit nicht viel darüber nachdachte. Einen Augenblick lang betrachtete er sein Spiegelbild. Der Dandy, der er einmal gewesen war, damals vor hundertfünfzig Jahren in Paris, war er ganz sicherlich nicht
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