Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
mehr, aber er war auch nicht der schmutzige Landstreicher mit dem zerzausten Haar, unter dessen Maske er sich eine Weile in Toronto versteckt hatte. Trotzdem sollte er vielleicht sein graues Haar ebenfalls kürzen, damit seine Länge nicht zu sehr auffiel.
Ardeth schob sich hinter ihn und hielt ihm ein schwarzes Stoffbündel hin. Rossokow nahm es entgegen und schüttelte es auseinander. Einen Augenblick lang blickte er verwirrt auf die weiße Aufschrift. »Gefällt es dir? Ich war mir nicht sicher, deshalb habe ich es dir nicht schon früher gegeben«, erklärte sie mit einem Unterton von Besorgnis in der Stimme, und er musste lachen, überrascht darüber, dass sie so besorgt war.
»Ja. ›Dead people are cool‹. Das gefällt mir.« Es gefiel ihm tatsächlich, obwohl er etwas überrascht darüber war, dass sie ihr spärliches Geld für eine Frivolität wie ein bedrucktes Hemd ausgab. Beinahe hätte er sie gefragt, weshalb sie es gekauft hatte, aber an ihrem strahlenden Lächeln war etwas, das die Frage im Keim ersticken ließ. Vielleicht war das auch eine Art von Flucht.
»Gut. Und jetzt setz dich hin, damit ich dir auch die Haare schneiden kann. Du siehst ein wenig zottelig aus.«
»Werde ich das nicht mehr, wenn du fertig bist?«
»Ich weiß, dass das nicht gerade eines meiner Talente ist . . . aber dafür bin ich billig«, meinte sie, und er setzte sich auf die Kante der Badewanne und ließ sich von ihr die Haare schneiden, die ihm über die Ohren und in die Stirn hingen. Ihr eigenes T-Shirt trug ebenfalls eine Aufschrift, stellte er fest. »Fear not – you can only die once«. Die Ironie der Aufschrift ließ ihn plötzlich frösteln und sich die Frage stellen, weshalb sie es gekauft hatte.
Er legte die Hände auf ihre Hüften und blickte zu ihr auf. Das weiße T-Shirt war sehr dünn; er konnte ihre Brustwarzen deutlich unter dem Stoff erkennen. Ihr Blick begegnete dem seinen, aber ihre Augen lagen im Schatten, den ihr Haar warf, und deshalb konnte er nicht in ihnen lesen. Sie legte die Schere beiseite und strich ihm mit den Fingern durchs Haar.
»Dead people are cool – Tote sind geil«, flüsterte sie.
»Ja, das sind wir doch, oder«, pflichtete er ihr mit leiser Stimme bei und erhob sich, während sie ihn küsste. Er hob sie hoch, und sie schlang Arme und Beine um ihn, als er sie ins Schlafzimmer trug, und dann gaben sie sich alle Mühe, um zu beweisen, dass solche Sprüche mehr als nur Worte waren, dass Tote keine Angst zu haben brauchten.
Dass Tote ihnen genügten.
5
Draußen herrschte Dunkelheit.
Lisa Takara spürte, wie ihre Nackenmuskeln sich plötzlich anspannten, als eisige Finger über ihr Rückgrat tasteten. Nach all ihrem sorgfältigen Planen, all dem, was sie sich vorgenommen hatte … war es draußen dunkel.
Die Fachbereichssitzung hatte lange gedauert, und dann hatte sie noch ein paar Versuchsergebnisse bearbeiten und sich auf das morgige Seminar vorbereiten müssen. Und so waren irgendwie die Stunden verronnen, und es war Nacht geworden.
Sie blieb an der Tür des Gebäudes der medizinischen Fakultät stehen und blickte durch die Glasscheibe auf den Parkplatz hinaus. Alles in Ordnung, sagte sie sich entschlossen. Dort draußen lauert nicht die geringste Gefahr. Sie konnte auf dem beleuchteten Campus kleine Grüppchen von Studenten umhergehen sehen.
Lisa atmete tief durch und trat in die kühle Septembernacht hinaus. Den Aktenkoffer fest in der Hand, strebte sie auf ihren Wagen auf der anderen Seite des Parkplatzes zu.
Sie spürte, wie ihre Spannung sich bei jedem Schritt löste. Es würde wie all die anderen Male sein, die sie in dem Monat, seit sie von Toronto nach Vancouver zurückgekehrt war, diese Strecke zurückgelegt hatte. Meist zwar am Tage, aber die wenigen Male, die es spät geworden war und wo die Nacht sie draußen erwischt hatte, war sie ungehindert nach Hause gekommen.
Aber vorsichtig zu sein war schließlich nur vernünftig, sagte sie sich. Die finsteren Straßen zu meiden, wenn sie alleine war, und die Abende vorzugsweise im Haus ihres Bruders draußen in einem der Vororte zu verbringen – all das war nur vernünftig. Auch andere Vorsichtsmaßnahmen waren ihr durch den Kopf gegangen, aber sie hatte sich gegen diese entschieden. Sie würde nicht ihre Stellung aufgeben, nicht die Stadt verlassen, nicht ihren Namen ändern. Sie würde nicht gepressten Knoblauch auf die Fenstersimse streichen und kein Kruzifix tragen.
Sie fuhr fort, vernünftig zu sein … aber
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