Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
Vorortstraßen in der Umgebung des Hauses ihres Bruders und in der weißen Sterilität der Universitätslaboratorien hatte sie sich sicher gefühlt.
Das hatte sie natürlich nicht retten können. Aber seit der Nacht, in der Takashi Yamagata sie verhört hatte, waren zwei Wochen verstrichen, und sie hatte nicht wieder von ihm gehört.
Hinter ihr sagte jemand ihren Namen.
Sie drehte sich um und erblickte eine junge Frau, die sie aus dem Schatten eines Baumes heraus beobachtete. »Dr. Takara«, wiederholte diese und trat ein Stück vor. Lisas Füße bewegten sich, ehe sie sich dessen bewusstwurde, brachten sie näher. Die junge Frau nahm die Sonnenbrille ab und lächelte. Sie hatte ein breites, freundliches Gesicht, das von schwarzem Haar in einem exquisiten Kurzschnitt eingerahmt wurde. Ihr anthrazitfarbenes Kostüm war einfach und diskret, der Rock endete in einer dem Anlass angemessenen Länge über dem Knie. »Darf ich Ihnen mein herzliches Beileid zu Ihrem schweren Verlust aussprechen?« Ihr Englisch war deutlich und präzise, aber ihr Akzent verriet Lisa, dass sie keine in Kanada geborene und aufgewachsene Nisei war.
Lisa machte automatisch eine Verbeugung und sah, dass die Frau ihre Geste erwiderte. »Vielen Dank. Haben Sie meinen Vater gekannt?«
»Nein, aber er stand geschäftlich mit der Organisation meines Chefs in Verbindung.« Lisa erstarrte wieder und verspürte plötzlich den Drang, sich umzusehen, die Schatten und Büsche nach jener Gefahr abzusuchen, von der sie sicher war, dass sie hier irgendwo lauerte. Aber das wagte sie nicht. Sie würden es ganz sicher nicht hier tun, machte sie sich klar und zwang sich, logisch zu denken. Nicht vor so vielen Leuten. Wenn sie sie noch einmal hätten befragen wollen, dann hätte es dafür tausend geeignetere Augenblicke als diesen gegeben. Und wenn sie ihren Tod gewollt hätten, dann hätte jene Nacht in der Limousine damit geendet, dass ihre Leiche im Hafen von Vancouver trieb.
»Ich bin sicher, dass er erfreut über Ihr Mitgefühl gewesen wäre«, sagte sie vorsichtig, plötzlich dankbar für die Formalitäten der Trauer.
»Mein Chef würde Ihnen sehr gerne sein Mitgefühl persönlich zum Ausdruck bringen.«
»Im Haus meines Bruders findet ein Empfang statt. Wir würden uns freuen, wenn er daran teilnehmen würde.«
»Er hat bedauerlicherweise andere Verpflichtungen. Er wäre sehr dankbar, wenn Sie sich heute Abend mit ihm treffen könnten.« Ihre Stimme war höflich, aber Lisa konnte die stählerne Härte unter den unverbindlichen Worten hören.
»Das geht nicht.«
»Dann morgen.«
»Da bin ich leider auch schon anderweitig verabredet.«
»Bitte, Dr. Takara. Mein Chef ist ein sehr geduldiger Mann, aber einige von denen, die für ihn arbeiten, sind das nicht. Ich soll Ihnen sagen, dass er für Ihre … Besorgnis … Verständnis hat, und dass seine Methoden nicht dieselben sind wie die seiner Angestellten, denen Sie vielleicht schon zuvor begegnet sind. Es wäre ihm eine Freude, wenn Sie den Ort für das Zusammentreffen auswählen würden, damit Sie Gewähr für seine guten Absichten haben.«
»Ich kann ihm nicht mehr sagen, als ich dem anderen schon gesagt habe«, erklärte Lisa, der die vorsichtigen Umschreibungen und die höflichen Beinahe-Wahrheiten unerträglich waren.
»Möglicherweise nicht. Aber wenn Sie ihm auch die Wahrheit sagen, dann hat alles ein Ende.«
»Wirklich?«
»Selbstverständlich. Mr. Fujiwara pflegt sein Wort zu halten. Sie haben von ihm nichts zu befürchten.« Sie griff in ihre Handtasche und streckte Lisa dann die Hand hin. »Hier ist seine Karte. Wir sind im Pan-Pacific-Hotel abgestiegen. Mein Name ist Akiko Kodama. Sie können mich anrufen und mir sagen, wo Sie sich mit ihm treffen wollen. Bitte haben Sie keine Angst, Dr. Takara.«
Dann verbeugte sie sich wieder und war gleich darauf verschwunden, eine schlanke, schwarze Gestalt, die mit klickenden Absätzen auf dem Plattenweg entschwand. Lisa starrte die weiße Visitenkarte an, die sie in der Hand hielt. Zwischen dem eingeprägten Symbol einer stilisierten Blume und einer Reihe japanischer Schriftzeichen stand ein Name: Sadamori Fujiwara.
Das erinnerte sie plötzlich an die andere Karte – die, die sie während des ganzen Alptraums in dem geheimen Labor bei sich getragen hatte. Die Nummer darauf hatte sie auch nie angerufen … Aber das hatte die nicht aufhalten können.
Sie hörte, wie Dereks Stimme nach ihr rief. Sie steckte die Visitenkarte in die Handtasche
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