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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Baker
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versuchte ihre Knie und Fersen zu entlasten, während sie mit ihrer Familie in dem Schrein kniete. Sie wusste, dass man auch von ihr erwartete, dass sie betete, dass ihr Bewusstsein, wenn schon nicht ihre Lippen, die buddhistischen Gebete für die Toten widerhallen ließen. Aber es fiel ihr schwer, sich auf die Zeremonie zu konzentrieren. Für Angela hingegen musste es noch viel schlimmer sein, denn ihr Japanisch war, gelinde gesagt, lückenhaft. Aber dann wiederum hatte ihre Schwägerin natürlich Paul, der sie beschäftigte.
    Sie selbst besaß nur Erinnerungen. Sie versuchte, sich auf die guten zu konzentrieren, die alten: Das Lächeln ihres Vaters, wenn sie ihm entgegenrannte, um ihn an der Tür ihres alten Hauses in den Vororten zu begrüßen; die Süßigkeiten, die er ihr hinter dem Rücken ihrer Mutter zusteckte; seine mit Stolz erfüllten Augen, wenn er sie bei der Abschlussfeier der Schulen beobachtete – immer wieder während ihres allmählichen Fortschritts durch die Highschool, die Universität, und dann am Ende die Promotionsfeier. Aber hinter jeder dieser Erinnerungen erhob sich eine andere, jüngere Vision: Ihr Vater in seinem dunklen Anzug, alt und würdevoll, sie den Tee ausgießend, und dann der Ärmel des Besuchers, der sich zurückschob, so dass man die Tätowierung an seinem Unterarm sehen konnte. Worte wie »Schuld« und »Ehre«, und dahinter angedeutete Drohungen, die so wie die Drachen auf Mr. Moros Handgelenk auftauchten und wieder verschwanden.
    Lisa ertappte sich dabei, wie sie in den Ärmeln ihrer Jacke die Fäuste ballte. Dein Vater ist tot, und du bist es der Erinnerung an ihn schuldig, ihn dieses letzte Mal zu ehren. Er war ein guter Vater, und er hat dich geliebt. Ganz gleich, was am Ende geschah.
    Der Rhythmus der letzten Gebete zog sie wieder in den Bann der Zeremonie, und sie schlug die Augen auf, ließ sich von dem Priester bei ihren letzten Verbeugungen leiten. Als ihre Brüder sich erhoben, stand sie ebenfalls auf. Gleich würde die Prozession am Sarg vorbei beginnen. Sie wartete hinter Robert und Derek, während jeder sich neben dem offenen Sarg verbeugte und eine Blume neben den Kopf ihres Vaters legte.
    Dann war sie an der Reihe. Sie zwang sich, auf das reglose, leere Gesicht herabzublicken. Sie hatte all die höflichen Plattitüden der Trauernden gehört: Er sieht so lebendig aus, so friedlich, ganz als würde er schlafen. Nichts davon stimmte, oder wenigstens nur für die, die es so wollten, die das Wissen ignorierten, dass sein Körper schon jetzt im Zerfall begriffen war, während sie noch danebenstanden. Und dass seine Seele schon lange entflohen war. Keiner von euch weiß, wie der Tod aussieht, hätte sie am liebsten hinausgeschrien. Keiner von euch hat auch nur die leiseste Ahnung davon.
    Ein Flüstern irgendwo hinter ihr ließ sie erkennen, dass sie immer noch am Sarg stand. Sie beugte sich über diesen und legte die weiße Chrysantheme nieder. Sie öffnete den Mund, um Lebewohl zu sagen, aber ihre Kehle zog sich zusammen, bevor sie die Worte aussprechen konnte. Sie schluckte und bewegte sich weiter.
    Draußen vor dem Tempel, im Licht des Herbstnachmittags, atmete sie tief ein und versuchte, den Weihrauch und das wirre Durcheinander aus Trauer und Wut loszuwerden, das sie erfüllte. Jemand berührte sie am Arm, und als sie sich umdrehte, stand da eine alte Bekannte ihres Vaters, die ihr Mitgefühl und ihre Tränen anbot. Sie verbeugte sich vor der Frau, ihre Lippen formten Dankesworte, und dann tauchte sie selbst wieder in die Rituale des Leids ein.
    Jetzt stand ihnen noch die Verbrennung bevor, dann das Zusammentreffen in Roberts Haus. Aber die Trauergäste verweilten im Tempelgarten und zögerten irgendwie, weiterzugehen. Lisa nahm Gesichter wahr, die sie erkannte: Freunde und Bekannte ihrer Eltern, einige ihrer Universitätskollegen, Nachbarn, und dann waren da auch andere, die sie nicht kannte, und sie ertappte sich dabei, wie sie die Gesichter sorgfältig studierte. Nicht die Weißen natürlich – die waren ungefährlich. Aber die Japaner … Sie musterte die Männergesichter, als gäbe es dort irgendeinen Hinweis, eine Spur, die es ihr erlaubte, geheime Tätowierungen und Verbindungen zur Unterwelt zu erkennen.
    Sie fühlte sich schrecklich verletzbar, als würde die alte Welt, die die Gärten und der Tempel in ihr wachriefen, sie gepackt halten. Seit ihrer Rückkehr aus Toronto hatte sie sich bemüht, nur in der Welt des Hier und Jetzt zu bleiben. Auf den

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