Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
schluckte krampfartig. »Und genau das ist die Falle. Wenn wir Menschenblut trinken und dabei nicht an die Menschen denken, von denen wir es nehmen, können wir zu Ungeheuern werden. Aber wenn sie uns etwas bedeuten …«
»Dann wäre es leicht, mehr zu tun, als bloß Blut zu trinken. Und dann denkt ihr, ihr betrügt einander«, führte Sara den Gedanken zu Ende. »Ich hätte nicht gedacht, dass Vampire dieselbe Definition von Treue haben wie wir Menschen.«
»Du redest die ganze Zeit über Vampire, als ob es Hunderte von uns gäbe. Als ob es einen Verhaltenskodex, Präzedenzfälle und Benimmregeln gäbe. Vielleicht sogar Briefkastentanten«, sagte Ardeth ärgerlich. »Du verstehst das nicht. Wir sind die Einzigen unser Art – oder es könnte jedenfalls sein, dass wir das sind. Ich weiß nicht, wie ›Vampire‹ denken oder empfinden sollen. Ich dachte, Dimitri wüsste das – jedenfalls klang das damals so, als wir zusammen in Toronto waren. Aber nachdem wir in Banff ankommen waren, veränderte sich alles. Ich verstand ihn nicht mehr, und deshalb weiß ich nicht, was ich eigentlich fühlen soll. Ich weiß nur, wie ich mich tatsächlich fühle.«
»Und du denkst, er hat dich betrogen.« Sie nickte. »Und du hättest ihm gegenüber beinahe dasselbe gemacht.«
»Ich weiß.« Einen Augenblick lang blieb Ardeth stumm und saß mit gesenktem Kopf da. Dann blickte sie auf. »Aber das habe ich nicht. Ich habe es nicht getan.«
Sara musterte sie einen Augenblick lang und kämpfte einen aussichtslosen Kampf gegen das absurde Gelächter, das in ihr aufstieg. Aber Ardeths Gesichtsausdruck, verletzt und zugleich indigniert, steigerte den Lachreiz nur noch. »Es tut mir leid, Ardy«, brachte sie schließlich heraus. »Aber weißt du, wie das klingt?«
»Wie denn?«
»Ganz wie im wirklichen Leben.«
»Ich will nicht das wirkliche Leben!«, rief Ardeth plötzlich und sprang auf und ging im Zimmer auf und ab. »Wenn ich ein wirkliches Leben haben soll, dann möchte ich in das alte Leben zurück, das ich früher einmal gelebt habe.«
»Und wenn du das nicht kannst?«
»Ich kann es immerhin versuchen. Mehr will ich doch gar nicht, Sara. Ich habe auf dem Weg hierher viel darüber nachgedacht. Ich will versuchen, mein Leben zurückzubekommen. Irgendwie. Wirst du mir dabei helfen?«
Sara stand auf und sah die dunkle Gestalt ihrer Schwester an, litt unter der Verzweiflung, die sie aus ihrer Stimme heraushörte und der schmerzlichen Hoffnung in ihren Augen. Plötzlich war an all dem nichts Erheiterndes mehr. Sie vertraute ihrer Stimme nicht mehr, breitete einfach die Arme aus und umarmte ihre Schwester. Mit geschlossenen Augen konnte das auch die alte Ardeth sein, zurückgekehrt, warm und lebendig. Also ließ sie die Augen geschlossen, so lange sie konnte.
17
Ardeths Fuß stieß an eine Bierflasche, die umkippte und fast lautlos auf den Boden rollte. Ihr Inhalt tropfte auf den schmutzigen Teppich.
Sie bewegte ihren Fuß und wechselte ihre Position, weiterhin an die Couch gelehnt, wobei sie auf den Fernsehschirm blickte. Dort flimmerte ein Musikvideo über die Leinwand, und hagere, barbrüstige, junge Männer ließen ihr langes Haar fliegen, während sie auf ihre Gitarren einhieben. Die Lautstärke war so niedrig eingestellt, dass die Musik sich auf das Dröhnen von Bass und Trommeln und das moskitoartige Pfeifen der Stimme der Sängerin reduzierte.
Sie überlegte, das Programm zu wechseln, gelangte aber dann zu dem Schluss, dass sie die Fernbedienung in dem Durcheinander aus Zeitungen, Büchern und leeren Bierflaschen auf dem Boden nie finden würde. Stattdessen hob sie das Küchenmesser auf, das auf der Pizzaschachtel neben ihr lag, und drehte es in den Händen herum. Die Überreste der angeklebten Tomatensauce sahen wie Blut aus. Bei dem Gedanken huschte ihr ein Lächeln über die Lippen.
Es würde nicht funktionieren.
Vielleicht, wenn du dir mehr Mühe gibst, redete sie sich ein. Vielleicht, wenn du aufhören würdest, so vorsichtig zu sein. Geh doch einfach zum Lehrstuhl für Geschichte und sag denen, dass du wieder da bist. Erfinde irgendeine Geschichte, oder erzähl denen etwas von einem Nervenzusammenbruch. Das würden die dir abkaufen – wäre ja nicht das erste Mal, dass das jemandem während seiner Doktorarbeit passiert. Und wenn du es richtig anstellst, kauft die Polizei es dir wahrscheinlich auch ab.
Sie hatte das alles in den langen Nächten ihrer Reise, seit sie das Gespräch mit Kate Butler geführt
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