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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Baker
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hatte, gründlich durchgeplant. Sie könnte wieder in ihre Wohnung einziehen, natürlich erst, nachdem Sara eine andere Bleibe für sich gefunden hatte. Sie könnte ihre Doktorarbeit abschließen. Sie könnte eine Dozentenstelle annehmen. Sie könnte das Blut, das sie brauchte, bei Landstreichern und Studenten finden, während sorgfältig eingefädelter Verführungen und mitternächtlicher Besuche. Es war machbar. Es könnte gehen. Sie könnte ihr altes Leben zurückbekommen.
    Nur, dass es nicht funktionierte.
    Selbst nach vier Nächten fühlte sie sich immer noch wie ein Wesen von einem anderen Stern, wenn sie über den Campus ging. An den Gebäuden war keine Spur mehr von behaglicher Vertrautheit. Die Leute sahen alle erschreckend jung aus, trugen eine Mode, die sie nicht wiedererkannte, und alle redeten eine Sprache, die ihr plötzlich fremd vorkam. Sie sah niemanden, den sie kannte, und die Angst, sich unwiderruflich festzulegen, hielt sie auch davon ab, Bekannte gezielt aufzusuchen.
    Würde das alles daraus Wirklichkeit machen? Wenn sie Carla und Peter oder sonst irgendjemand von ihren Freunden träfe, Freunde aus den Tagen, als das noch ihre Welt gewesen war? Sobald die Fragen und Antworten einmal vorbei waren, würde sie dann das Gefühl haben, wieder hierherzugehören?
    Etwas regte sich an ihrer Schulter. Sie sah sich nach dem Jungen um, der auf der Couch lag.
    Sie war vor einer halben Stunde durch das Fenster in das Erdgeschosszimmer gekrochen, angelockt vom bläulichen Licht des Fernsehers, das durch das halbgeöffnete Fenster nach draußen drang. Um drei Uhr morgens waren selbst die Schlafsäle still. Während sie am Fenstersims gekauert hatte, hatte sie ein Ächzen der Dielen im Flur gehört. Dann in einiger Entfernung das Rauschen von Wasser in den Leitungsrohren. Dann waren weich klatschende Schritte zurückgekehrt, und anschließend war wieder Stille eingetreten.
    Das Zimmer roch nach abgestandener Pizza, Bier und Marihuana. Der Junge hatte all das konsumiert. Jetzt lag er auf der Couch auf dem Rücken, vollständig angekleidet, mit Ausnahme eines Turnschuhs, den er irgendwie weggetreten hatte, ehe er eingeschlafen war. Ardeth hatte längere Zeit kauernd neben ihm gewartet und zugesehen, wie sich seine Brust unter dem abgewetzten T-Shirt hob und senkte. Dann hatte sie sein langes, dunkles Haar beiseitegeschoben und ihren Kopf über seinen Hals gebeugt. Er hatte einen halblauten Ton von sich gegeben, als ihre Zähne in sein Fleisch eindrangen, und eine seiner Hände hatte sich leicht angehoben, wie um sie zu berühren, war dann aber wieder heruntergefallen.
    Dann hörte sie ihr eigenes, schreckliches Stöhnen und löste sich von ihm und starrte in der finsteren Stille auf seinen vergessenen Fernseher.
    Als sie ihn jetzt anblickte, die Linie wahrnahm, die sein Hals bildete, an einem Ende von seinem scharf vorstehenden Schlüsselbein, am anderen Ende vom Glitzern eines goldenen Ohrsteckers begrenzt, spürte sie, wie der Hunger sich in ihr wieder einstellte. Sein Blut hatte heiß und süß geschmeckt, so, wie wenn man nach Monaten des Wassers Wein trank, wie wenn man nach Jahren der Asche Gewürze zu kosten bekam.
    Er bewegte sich wieder, atmete mit einem weichen, grunzenden Laut aus und drehte sich zur Seite. Ein Arm rutschte über die Kante der Couch, so dass seine Hand im Schlaf herunterbaumelte. Ardeth streckte einen Finger aus und berührte die Vene an seinem Handgelenk.
    Ich hatte ganz vergessen, wie gut es ist, dachte sie. Ich hatte vergessen, wie einfach es ist. Hatten wir wirklich geglaubt, wir könnten das aufgeben?
    Sie fand seinen Puls: langsam, gleichmäßig, unverändert. Sie hatte das ganz anders geplant. Das war nicht die glorreiche Rache, die sie sich ausgemalt hatte – nicht einmal das hatte sie zustande gebracht. Dieser Junge war kein Ersatz für Mark … Aber sie hatte Nahrung gebraucht, und in der Stadt gab es keine Tiere, die groß genug waren. Was er wohl gerade tun mag?, dachte sie und versuchte, sich einzureden, dass sie damit Mark meinte.
    Plötzlich überkam sie ein Flutwelle des Schmerzes, in die sich Erinnerungen mischten. Rossokow in der Irrenanstalt, wie er sie durch die Gitterstäbe, die sie voneinander trennten, auf den Hals küsste. Die Nacht, in der sie einander in den Straßen von Toronto wiedergefunden hatten. Seine Arme, die sich stumm öffneten, um sie zu begrüßen. Seine Stimme, als er ihr versprach, dass sie einen Weg finden konnten, um mehr zu sein als die

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