Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
ein gewisser junger Mann gezwungen, die Hauptstadt zu verlassen. Sein Vater und sein Onkel hatten lange Zeit miteinander in Wettstreit um die Ehrungen des Hofes gelegen, und jetzt hatte man die Verlobung der Tochter seines Onkels mit dem Kronprinzen bekanntgegeben, womit offenkundig war, wer den Sieg davongetragen hatte. Der Vater des jungen Mannes sah sich seiner Macht beraubt, und der Onkel bestimmte, um damit einen jungen Rivalen loszuwerden, dass der junge Mann in die Verwaltung einer fernen Provinz entsandt werden sollte.
Die Familie brach in Wehklagen aus, aber die Entscheidung war nicht umzustoßen. Obwohl die Omen für eine solche Reise ungünstig ausfielen, bestand der Onkel darauf, dass sie sofort angetreten werden müsse, und dem konnte sich der junge Mann nicht widersetzen. Begleitet von vier Bediensteten verließ er seine weinenden Frauen. Diese klagten zwar laut, erboten sich aber nicht, ihn ins Exil zu begleiten, vielleicht – um großzügig zu sein – in der Hoffnung, dass dieses Exil nicht von Dauer sein würde. Der junge Mann sagte seinem Vater Lebewohl und trat zu Pferde die Reise zu seinem neuen Zuhause weit oben im Nordwesten des Landes an.
Unterwegs ereilte sie ein Missgeschick, denn die kleine Gruppe wurde von Wegelagerern überfallen. Sie kämpften tapfer, aber vergebens. Die Bediensteten wurden erschlagen, die Pferde und ihre Traglast gestohlen, und der junge Mann entkam nur knapp dem Tode. Geschlagen und mit Wunden übersät, stolperte er durch die Wälder und verirrte sich hoffnungslos zwischen den Fichten. Sein Herz war von Schrecken erfüllt, denn seit langem war bekannt, dass dieses wilde Bergland die Heimat von Geistern und Dämonen wie etwa dem bösartigen, langnasigen Tengu war.
Als er daher zwischen den Bäumen ein schwaches Licht erblickte, taumelte er darauf zu und flehte die Götter an, das Licht möge sich als die Zuflucht eines Einsiedlermönchs oder eines sonst wie freundlich gesonnenen Menschen erweisen, der ihn aufnehmen und ihm Zuflucht gewähren würde. Als er aber aus der Finsternis der Bäume hervortrat, sah er stattdessen im Mondlicht ein wunderschönes Haus, hinter dessen geöffneter Tür weiches Laternenlicht leuchtete.
Er dankte den Göttern für sein Glück, rannte auf das Haus zu und erklomm die Veranda. Als seine Schritte auf den hölzernen Dielen widerhallten, erschien in der Tür eine Gestalt. Im Lampenlicht konnte er erkennen, dass es eine in altmodische Dienstbotenkleider gehüllte alte Frau war, der das lange graue Haar über die Schultern fiel, als ob sie gerade aus dem Bett aufgestanden wäre.
Plötzlich wurde dem jungen Mann bewusst, welchen Anblick er selbst bieten musste. Seine Reisekleidung, die schön und elegant gewesen war, als er Heian-kyo verlassen hatte, war jetzt zerfetzt und starrte vor Schmutz. Er hatte im Wald seinen Hut verloren, und in seinem Haar hingen abgestorbene Blätter und Zweige. All seine Habseligkeiten, mit Ausnahme einer Gürteltasche mit den Schriftrollen seine neue Stellung betreffend, hatten ihm die Wegelagerer weggenommen.
Er verbeugte sich tief und sagte mit erlesener Höflichkeit: »Verzeiht mein Eindringen. Ich und meine Bediensteten sind auf der Straße von Wegelagerern überfallen worden. All meine Begleiter sind getötet worden, und ich bin nur mit knapper Not mit meinem Leben entkommen. Ich bitte Euch, mir in Eurem Haus Zuflucht zu gewähren.«
Als er ausgesprochen hatte, kniete sie auf dem Boden nieder und verbeugte sich tief, denn seine Sprache legte Zeugnis ab für seine aristokratische Herkunft. »Seid willkommen in unserem bescheidenen Haus, hoher Herr. Wenn Ihr eintreten wollt, werden wir unser Bestes tun, Euch zu dienen.«
Ihre Begrüßung klang so aufrichtig und offen, dass er beinahe in das Haus gestürmt wäre, aber er bewahrte Haltung und folgte ihr durch die dunklen Korridore, bis sie einen Garten erreichten. Im Mondlicht konnte der junge Mann die schweren, überhängenden Äste von Bäumen sehen, ebenso wie Wacholderbüsche und Gras. Ein durchdringender, metallischer Geruch lag in der Luft, und in einer Ecke des Gartens stieg aus einem Kreis von Steinen Dampf auf. »Unsere Quelle hat Heilkraft, sagt man. Wenn Ihr zu baden wünscht, werde ich Euch saubere Kleidung bringen und Euch dann zu der Dame führen.«
Das entfachte die Neugierde des jungen Mannes, aber der Gedanke an das heiße Wasser war stärker, und so bewahrte er sich seine Fragen für später. Er badete in der Quelle, deren heißes
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