Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
Wasser in der Tat gleichsam verjüngend wirkte, und zog dann die Kleider an, welche die alte Frau ihm brachte. Sie waren von guter Qualität, aber von ebenso altmodischem Schnitt wie die der alten Frau, und er musste deshalb sein feuchtes Haar nach hinten kämmen, weil er keine Möglichkeit hatte, es nach höfischer Art zu ordnen.
Als er der Frau zurück zum Haus folgte, entschied er für sich, dass es der Sitz einer alten Adelslinie sein musste, die vor Jahren die Hauptstadt verlassen hatte, um hier in seltsamer Abgeschiedenheit zu leben. Vielleicht waren sie, gleich ihm, Opfer eines Machtkampfes gewesen.
Die Frau führte ihn durch einen Schleier von Seidenvorhängen in einen gedämpft beleuchteten Raum, bedeutete ihm mit einer Handbewegung, auf einem Polster Platz zu nehmen, und kniete dann nieder, um heißen Wein in eine Schale zu gießen. Er leerte dankbar die erste Schale und, als sie ihm angeboten wurde, auch eine zweite.
Dann verbeugte sich die alte Frau aufs Neue, erhob sich und tappte zur Tür. Allein gelassen, sah sich der junge Mann in dem Raum um und entdeckte zum ersten Mal den dünnen Wandschirm auf der anderen Seite. Darunter konnte er die fließenden Ärmel einer Dame sehen, aus fahler grauer und weißer und silberner Seide, die auf dem Boden wie Nebel wirkten. Selbst in dem Halbdunkel, welches hier herrschte, dachte er, dass der Schatten, der über dem Tuch lag, eine Locke ihres langen schwarzen Haares sein musste.
Er verbeugte sich im Sitzen. »Habt Dank, edle Dame, für Eure Gastfreundschaft.«
»Ihr seid mir willkommen«, war hinter dem Wandschirm eine Stimme zu vernehmen. »Meine Dienerin hat mir gesagt, dass Wegelagerer Euch überfallen haben. Ich hoffe, Ihr seid nicht verletzt.«
»Nur ein paar Kratzer. Eure Quelle hat mir Linderung verschafft. « Von ihrer Stimme neugierig gemacht, schob der junge Mann sich ein wenig näher an den Wandschirm heran. Er nannte ihr seinen Namen und beschloss in dem Wissen, dass es für eine Dame von Geblüt nicht ziemlich wäre, ihm den ihren zu nennen, sie für sich die Dame des Herbstmondes zu nennen. Während er in kleinen Schlucken ihren Wein trank, erzählte er ihr, wie er mit seiner Dienerschaft die Hauptstadt verlassen hatte und von den Wegelagerern überfallen worden war. »Euer Haus war mir ein höchst willkommener Anblick, edle Dame. Wie kommt es, dass Ihr so weit von der Welt entfernt lebt, an einem solch abgeschiedenen Ort?«
»Mein Vater hat mich hierhergebracht. Das liegt viele Jahre zurück«, antwortete sie. Aber ihre Stimme klang so jung, dass er für sich den Schluss zog, dass sie zu der Zeit noch ein Säugling gewesen sein musste. »Als er starb, blieb ich hier.«
»Lebt Ihr hier alleine?«
»Nur ich und meine Dienerin sind geblieben. Die anderen Bediensteten haben mich alle verlassen, als mein Vater starb.«
»Was für ein schreckliches Schicksal für eine junge Frau«, bemerkte der junge Mann. »Habt Ihr keine Familie? Niemanden, der Euch in die Hauptstadt zurückholen und Sorge für Eure Zukunft treffen kann?«
»Ich habe nur mich.«
»Glaubt mir, die Freundlichkeit, die Ihr mir erweist, wird nicht ohne Belohnung bleiben«, versicherte er ihr, entschlossen, ihr zu helfen, aber insgeheim nicht sicher, welche Mittel ihm noch zur Verfügung standen. Wäre es möglich, sie in sein neues Heim mitzunehmen? Wenn sie so schön war, wie ihre Stimme das andeutete, würde er sie vielleicht zur Konkubine nehmen können.
»Eure freundlichen Gedanken sind mir Dank genug, edler Herr.«
»Unsinn«, antwortete er fast schroff, entschied dann aber, dass er versuchen würde, sie mit einem Gedicht zu überreden: »Lieblich im einsamen Garten – doch wie viel wertvoller ist die Pflaumenblüte, wenn man sie sieht.«
Er hörte das Rascheln ihrer Seide, und die Ärmel ihres Gewands bewegten sich hinter dem Wandschirm wie eine bleiche Hand.
»Die Mondblüte erfüllt die Nacht mit Duft. Aber am Tage würdet Ihr an ihr vorübergehen«, erwiderte sie, und ihr Witz bewegte ihn ebenso wie ihr Widerstand ihn faszinierte.
»Ich würde die ganze Nacht auf den Mond warten und meine Ärmel vom morgendlichen Tau benetzen lassen, wenn sie nicht käme.«
Er wartete auf ihre Antwort, als die alte Dienerin wieder erschien und an der Tür niederkauerte.
»Ich habe eine Kammer für Euch vorbereitet, edler Herr. Ihr seid gewiss müde und wollt Euch ausruhen.« Der junge Mann war verstimmt darüber, dass er in seiner Tändelei mit der Dame des Herbstmondes gestört
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