Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
zu, als er das erste meiner Gewänder hob. »Was seid Ihr?«, flüsterte ich und sah zu, wie die zweite Schicht Seide weggezogen wurde.
»Ich weiß nicht. Ich bin ein Ding, das gestorben ist und sich verändert hat. Oder sich vielleicht nur verändert hat und jetzt nicht stirbt.« Pflaumenfarbene Seide glitt durch seine Hand, dann aprikosenfarbene und dann goldene, in der Farbe der Herbstblätter.
»Seid Ihr mein Onkel?«
»Nein.« Er schüttelte den Kopf, als die letzte Hülle fiel. »Ich bin Fujiwara no Sadamori. Ich bin dein Großvater.« Und dann legte er seine Hand auf meine Brust, über mein pochendes Herz. Ich wusste, dass er die Wahrheit sprach. Ich hatte keinen Onkel. Mein Großvater hatte den Titel gewählt, um sein wahres Wesen, sein wahres Alter zu verbergen. Doch das Gesicht, das über dem meinen schwebte, war nicht das Gesicht eines alten Mannes. Ich schloss die Augen, konnte den Anblick jener weißen Züge und die schwarzen, brennenden Augen nicht ertragen. Dies war kein unbekannter Dämon. Dies war ein Wesen, das auf irgendeine schreckliche Weise den Körper meines Vorfahren in seine Macht gebracht hatte. Vielleicht war es auch wirklich mein Urahn. Ich konnte ihn weder verraten, noch konnte mein Vater das tun, denn ein zweiter Fluch der über unsere Familie kam, könnte ihren Untergang bedeuten. Und ich konnte die Wahrheit nicht gestehen: Dass, ob nun Dämon oder nicht, Vorfahr oder nicht, seine Berührung meinen Körper zu schmerzlichem Hunger erregte.
Ich fühlte, wie heiße Tränen auf meine Haut fielen, und dann das Eis seiner Lippen, als er sie wegküsste. »Schsch … nicht weinen. Mein Blut ist in deinen Adern. Ist es Unrecht, dass deines auch in den meinen ist?« Sein Mund berührte meinen. »Aber ich werde dich nicht zwingen. Du brauchst es nur zu sagen, dann gehe ich.«
Es war meine Pflicht, mich ihm hinzugeben. Er wusste das, auch wenn er vorgab, es zu vergessen, und mich mit der Gewandtheit seiner Finger zu überreden versuchte, mit der Poesie seines Mundes. Es war meine Pflicht, mich ihm hinzugeben, aber ich tat es nicht aus Pflicht. Als er auf meinem nackten Körper lag und seinen Mund an meine Kehle drückte, gab ich mich ihm aus eigenem blinden, selbstsüchtigen Sehnen hin.
Nachdem er sich genommen hatte, was er wollte, küsste er wieder meinen Mund und setzte sich auf. »Ich gehe morgen Nacht fort. Wir werden uns nicht wieder begegnen.«
»Nein«, stimmte ich ihm flüsternd zu.
»Ich werde an dich denken, hier in diesem sterbenden Garten. «
»Bist du doch ein Wahrsager?«
»Nein.« Er schüttelte betrübt den Kopf. »Ich bin noch nicht einmal so sehr alt. Aber ich habe die Welt außerhalb dieser Mauern gesehen, und jetzt habe ich aufs Neue die Welt innerhalb der Mauern betrachtet. Ich habe versucht, deinen Vater zu warnen … meinen Sohn. Ich habe ihm sogar gesagt, dass er dich mit einem Sohn aus einem der Kriegerclans verheiraten sollte, aber ich nehme nicht an, dass er auf mich gehört hat.«
»Möchtest du, dass ich heirate?«, fragte ich mit einem Schmerz, der mich überraschte.
»Ich möchte dich sicher wissen.« Er beugte sich über mich und küsste mich zweimal, einmal auf den Mund, einmal auf die Stirn. »Lebe wohl, Enkeltochter.«
Als er gegangen war, hüllte ich mich in eines meiner Gewänder und öffnete die äußere Tür, um den Mond zu sehen. Er stand am Himmel, immer noch fast voll, und leuchtete auf die Stadt herunter. In der Ferne sah ich das orangefarbene Glühen von Flammen. Ich saß lange Zeit da und sah zu, wie wieder ein Teil der Stadt des Kaisers niederbrannte.
23
Oktober, 1902
Du hast natürlich Recht. Ich bin nicht Tamakatsura. Ich gestehe, dass ich auch dieses Mal der dichterischen Freiheit Raum eingeräumt habe, obwohl sie mir in der Nacht, die wir miteinander verbracht haben, tatsächlich sagte, wie ihr zumute war. Und ich glaube, dass meine Schilderung im Herzen der Wahrheit entspricht.
Ich verließ Heian-kyo zum zweiten Mal und begab mich auf die Fujiwara-Ländereien. Mein Sohn verheiratete Tamakatsura nicht mit einem Minamoto. Kurz nachdem ich abgereist war, erhielt ich die Nachricht, dass sie in ein buddhistisches Kloster eingetreten war.
Die Welt endete nicht ganz so, wie ich es erwartet hatte, aber im Verlauf des nächsten Jahrhunderts verloren die Fujiwaras den Zugriff zur eigentlichen Macht im Reiche. Als sie nicht mehr genügend Töchter zeugten, um Frauen und Gemahlinnen für die königliche Familie zu liefern, fingen die
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