Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
als ein paar Worte in der Sprache ihres Vaters gelernt hatte.
Eine Weile verlor sie sich in dem Gefühl der Liebe und der Sehnsucht, in Blüten und Mondlicht und Regen. Einige der Gedichte waren mehr als tausend Jahre alt, aber die Empfindungen brannten immer noch in den Worten, die vor Süße und Sorge erstrahlten. Sie blätterte in dem Buch und kostete seine Schönheit ebenso aus wie den geschriebenen Text. An den kurzen Gedichten, die auf der weißen Leere der Seite ruhten, war etwas Erhabenes und zugleich Beruhigendes.
Aus der Bergquelle
Plätschert das Wasser klar und kalt.
Rein wie das Mondlicht;
Ich dürste, aber kann nicht trinken.
Ich muss weiterreisen.
Ihr Blick fiel auf den Namen unter dem Gedicht. Die Hand mit der Tasse erstarrte auf halbem Wege zu ihrem Mund. Sie setzte sie sehr sorgfältig ab, und ihre Finger fühlten sich plötzlich ebenso zerbrechlich an wie das Porzellan.
Fujiwara no Sadamori, 13. Jahrhundert.
Das ist wahrscheinlich ein geläufiger Name, sagte sie sich. Im Laufe der Jahrhunderte musste es Hunderte Sadamori Fujiwaras gegeben haben.
Aber das war er. Sie wusste es mit einer Sicherheit, die beinahe beängstigend war. Wer sonst hätte ein Gedicht voll Sehnen nach etwas so Banalem wie Wasser schreiben können, einer Labsal, die ihm für alle Zeit verwehrt war.
Sie las das Gedicht laut, mit sanfter Stimme. Darin gab es mehr als nur die Sehnsucht, erkannte sie dann. Es gab auch Entschlossenheit.
»Ich dürste, aber kann nicht trinken«, flüsterte sie. Das galt auch für sie. Sie dürstete immer noch nach Antworten, die sie nicht haben konnte. Wenn sie ihnen nachging, dann würde das nur zu großem Leid führen – Leid für sie selbst und Leid für die Vampire, die ihr nie etwas zuleide getan hatten, und vielleicht sogar Leid für die ganze Welt. Die einzigen Antworten, die sie je erhalten konnte, waren die, die sie gefunden hatte, als sie Fujiwara ihr Blut hatte trinken lassen. Die Antwort, dass es tatsächlich Vampire gab. Und dass sie sie nie verraten konnte.
»Ich muss weiterreisen.« Das hatte er getan, mehr als sieben Jahrhunderte lang. Jetzt musste sie die letzten sechs Monate verstreichen lassen. Sie musste glauben, dass es vorbei war, ob sie es nun so wollte oder nicht, und ob es zutraf oder nicht.
Sie klappte die erste Seite des Buches auf und blickte auf die Widmung. Er hätte gesagt, dass es Schicksal ist, dachte sie und lächelte. Das Schicksal wusste, was ich brauchen würde, und hat dafür gesorgt, dass er es mir gegeben hat. »Danke, dass du es gewusst hast«, sagte sie leise und fuhr dann mit dem Finger die Linien und Kurven der Schriftzeichen nach. Sie blickte auf und sah auf die Stadt hinunter, die vor den Türen ihres Balkons glitzerte.
Danke, Sadamori no Fujiwara, dachte sie in die Dunkelheit hinein. Ich werde weiterreisen, obwohl unsere Wege sich nie mehr kreuzen werden.
Wenn ich mir auch das Recht vorbehalte, dennoch zu hoffen, dass sie das vielleicht eines Tages tun werden.
25
Die Maske des Dämons
Die Schauspielertruppe reiste nordwärts auf die Ländereien von Baron Konishi zu. So stand es wenigstens in der Nachricht, die von Tadeo eingegangen war, dem Haushofmeister von Fujiwara Sadamori. Tadeo kniete vor dem Sitz seines Herrn und las ihm aus der Schriftrolle vor.
»Die Truppe von Meister Hidekane erbittet sicheres Geleit auf dem Wege nach Konishi und würde es als große Gnade empfinden, wenn sie Gelegenheit bekäme, die Freundlichkeit von Baron Fujiwara zu erwidern, indem sie eines ihrer bescheidenen Stücke zur Freude des Barons und seines Hofes zum Besten geben dürfte.«
»In diesem Wetter nach Konishi reisen?«, fragte der Baron, denn es war der erste Monat des Jahres, und der Winter hielt das Land mit eisiger Hand in seinem Griff. »Sie können wohl kaum zu den Blüten des Hofes gehören, wenn sie nicht näher bei der Hauptstadt Anstellung finden können.«
»Ich habe den Boten aus dem Gasthof befragt«, erklärte Tadeo. »Er sagte, dass sie Pferde und Ochsenkarren haben und dass alle Tiere gut ausgestattet und wertvoll sind.«
»Konishi liebt das Noh«, überlegte der Baron, »und die Götter wissen, dass er sein Gesicht in der Nähe von Kyoto und dem Shogun nicht zeigen darf, wenn er seinen Kopf noch länger behalten will.« Nach kurzem Nachdenken nickte er. »Es war ein langer Winter. Ein wenig Abwechslung kann nicht schaden. Lade sie ein, sie sollen zu uns kommen und uns unterhalten.«
Also wurden Boten entsandt, und
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