Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
langsam um und hob die Hand, damit meine langen Ärmel mein Gesicht ein wenig verschleierten.
Ein Mann stand am Ende des Steges. Ich kannte ihn nicht, konnte aber sehen, dass seine Kleider nach dem neuesten Stil des Hofes geschnitten waren. Sein Gesicht sah im Mondlicht sehr weiß aus, seine Augen waren zwei dunkle Kohlen mit einem rötlichen Schimmer, als enthielten sie in ihrem Kern noch etwas Glut, die nur darauf wartete, dass ein Funke das Feuer erneut entfachte.
»Verzeiht mir.« Seine Stimme klang ruhig und wies einen altmodischen Akzent auf. »Ich wollte Euch nicht erschrecken. Lasst Euch von mir nicht stören.« Schöne Worte, die er da sprach … aber er regte sich nicht von der Stelle. Ich trat einen Schritt vor, aber das beschämte ihn nicht so, dass er den Weg freigab.
»Ich komme vom Pflaumenpavillon … Man erwartet mich im Palast.« Ich tat einen weiteren vorsichtigen Schritt.
»Aber dies scheint mir nicht der Weg zum Palast zu sein.« Seine Stimme klang leicht amüsiert. »Aber lasst Euch von mir nicht aufhalten. Ohne Zweifel wartet Ihr auf jemanden, der Euch geleitet.«
»Nein«, sagte ich, ehe es mir in den Sinn kam zu lügen. Besser, er glaubte, ich wolle mich heimlich mit jemanden treffen, als dass er annahm, ich sei allein. Aber jetzt war es zu spät.
»Nein? Dann galt also keine der Verabredungen, von denen ich hörte, Euch?«
»Wenn Ihr an der Mondbetrachtung teilgenommen habt, wie Ihr vorgebt, würdet Ihr das wissen.«
»Mag sein.« Seine hölzernen Sandalen bewegten sich jetzt auf dem Steg, und ich spürte das Geländer an meinem Rücken. »Aber abgelehnte Einladungen werden selten anderen mitgeteilt, und, wie ich schon sagte, ich bin hier ein Fremder. Ich weiß nicht, wessen Meditation ich so ungehörig unterbrochen habe.«
»Ich bin Hofdame der Prinzessin Masahime.« Er war mir inzwischen so nahe gekommen, dass ich sehen konnte, wie seine schwarzen Augenbrauen sich ein wenig in die Höhe hoben. Im Mondlicht wirkte sein gepudertes Gesicht wie eine weitere Mondscheibe, leuchtend und geheimnisvoll.
»Kennt Ihr die Dame Tamakatsura?« Die Frage ließ mich erzittern und ihn noch schärfer mustern, um zu sehen, ob er irgendwelche Zeichen eines übernatürlichen Geschöpfes trug. Einen wahnsinnigen Augenblick lang fürchtete ich, er sei der seltsam verwandelte Geist meines Verlobten. Aber er wirkte durchaus stofflich und real, auf gefährliche Weise real.
»Ja«, hauchte ich schließlich, »ich kenne sie. Weshalb fragt ihr?«
»Bloß aus Neugierde. Ich kenne ihren Vater.«
»Ihr sagt, Ihr seid hier fremd. Ist dies Euer erster Besuch in der Hauptstadt?«, fragte ich, erfüllt von geheimer, unwürdiger Hoffnung, ich könnte mein eigenes Geburtsrecht, so wie Koi das tat, als Waffe gegen die Welt nutzen.
»Nicht mein erster. Aber mein erster seit vielen Jahren.«
»Und findet Ihr, dass sie sich verändert hat?« Jetzt blickte er zu dem Palast hinüber, hinter den dunklen Säulen der Bäume. Und nachdem ein paar Augenblicke vergangen waren, sagte er mit leiser Stimme:
»Die Pflaumenbäume blühen,
Und der Schnee schmilzt dahin.
Die Kirschblüten warten,
Um den Mond widerzuspiegeln.
Der Wind bläst in die Fichten
Und trägt den Herbst in sich.«
»So traurig findet Ihr sie?«, fragte ich, denn in der getragenen Schönheit des Gedichts klang Sorge mit.
»Ja. Die Traurigkeit einer Blüte, kurz bevor sie fällt, der Augenblick, kurz bevor man den Verfall der Blüte erkennen kann.«
»Dies ist Heian-kyo. Dies ist der Hof des Kaisers. Wie könnt Ihr sagen, dass er fallen wird und dass es traurig ist?«
»Weil er das wird, edle Dame. Die Saat seines Niedergangs ist bereits gesät und wächst in der Welt jenseits dieser Mauern zur Reife heran. Ich will Euch nicht mit Einzelheiten über Vermögen in Reis und Rückgang in der Besteuerung und Unruhen langweilen und mit den Armeen der Minamoto und Taira, die vor Eurer Tür immer mehr erstarken. Ich kann Euch nur sagen, dass alle Dinge, die leben, auch sterben müssen«, meinte er bitter, »oder sich verändern. Der Wandel wird vor der Stadt der Beschaulichkeit und des Friedens nicht haltmachen.«
»Es ist wahr, dass diese Stadt nicht mehr das ist, was sie einmal war«, räumte ich ein. »Selbst im Palastgelände gibt es Diebe und Mörder. Die Häuser der großen Familien sind niedergebrannt oder vernachlässigt worden, weil das Geld für ihren Unterhalt fehlte. Aber sicherlich sind das nur Prüfungen von kurzer Dauer, die wieder
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