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Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Die Nacht in mir: Roman (German Edition)

Titel: Die Nacht in mir: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Nancy Baker
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beschäftigen, trieb sie zu dem vertrauten Ritual, Tee zuzubereiten.
    Ich möchte nur wissen, wie sie es in ihrem Organismus verarbeiten? Die Frage drängte sich in ihr Bewusstsein, so wie in den letzten Tagen tausend andere. All die Fragen, die sie im Dale-Labor hätte beantworten sollen, damals, als sie noch überhaupt nicht an Vampire geglaubt hatte.
    Sie hatte gedacht, ihre Neugierde sei gestorben, ausgebrannt vom Schrecken ihrer Gefangenschaft in Toronto. Sie war sich ganz sicher gewesen, dass Fujiwara die letzten Reste davon ausgelöscht hatte. Sie hatte geglaubt, ihr sehnlichster und einziger Wunsch sei es, jetzt in Frieden gelassen zu werden. Und doch stellte sie jetzt, wo es vorbei war, fest, dass sie einfach nicht aufhören konnte, darüber nachzudenken. Wilde Fantasien zogen durch ihren Geist und versuchten, sich als vernünftige Pläne zu tarnen. Die Vampire auf eigene Faust zu studieren wäre sinnlos, selbst wenn diese sich zur Zusammenarbeit mit ihr bereiterklären sollten. Sie würde nie etwas von ihren Entdeckungen veröffentlichen können. Es konnte niemals ein Teil des allgemeinen Wissensfundus’ über die Welt werden.
    Und selbst wenn es das wurde, könnten die Folgen ihrer Entdeckungen doch gefährlich sein. Sie verfügte einfach nicht über die notwendige Distanz, um aufhören zu können, über die möglichen Folgen ihrer Neugierde nachzudenken. Sie malte sich eine Welt aus, in der niemand starb – oder in der der Tod nur zu jenen kam, die nicht über das Geld verfügten, um sich die Ewigkeit zu erkaufen. Wenn sich erwies, dass die Unsterblichkeit untrennbar mit dem Bedürfnis nach Blut verbunden war, konnte sie sich eine von Vampiren beherrschte Welt ausmalen. Es gab einfach keinen Weg, um dieses Wissen von den alptraumhaften Visionen von Blut und Macht, Verschwörung und Korruption loszulösen. Der Preis, den die Welt für die Unsterblichkeit würde entrichten müssen, könnte viel höher sein, als es das Geschenk wert war.
    Wenn du Antworten auf deine Fragen gewollt hättest, ohne dir je Sorgen über die Folgen zu machen, hättest du ja bloß Havendale gewinnen lassen müssen, sagte sich Lisa. Du hättest den Rest deines Lebens – wie lange auch immer sie zugelassen hätten, dass du am Leben bleibst – damit verbringen können, aus Ardeth und Rossokow alles herauszuholen, was du aus ihnen durch Zerren, Schaben und am Ende durch Sezieren herausbringen konntest.
    Es ist vorbei. Hör auf, darüber nachzudenken, befahl sie sich streng und wandte sich dem pfeifenden Teekessel zu. Es gibt eine ganze Menge anderer wissenschaftlicher Probleme, die gelöst werden müssen. Es gibt tausend Geheimnisse, die zu erforschen weniger gefährlich ist.
    Mit dem Tee in der Hand ging sie ins Wohnzimmer zurück, auf der Suche nach etwas Lesbarem. Keine wissenschaftlichen Fachbücher, nicht heute Abend, sagte sie sich und ließ ihren Blick über die Regale schweifen. Auch keine Krimis, ihr geheimes schuldbeflecktes Vergnügen.
    Ein dünner roter Band fiel ihr ins Auge, und sie zog ihn heraus. Er war ein Geschenk ihres Vaters gewesen, damals, als sie die Abschlussprüfung an der Highschool bestanden hatte. Er hatte gewusst, dass sie vorhatte, Medizin zu studieren, und war deshalb sehr stolz auf sie gewesen, aber sein Geschenk war ein Band mit Gedichten gewesen. »Damit du das Schöne in der Welt nicht vergisst«, hatte er etwas barsch gesagt. »Damit du nicht vergisst, wer du bist.«
    Lisa schloss kurz die Augen und ließ das Leid in sich aufsteigen. Dann trat eine andere Stimme an die Stelle der ihres Vaters und zitierte vier Verse in der alten Sprache, die sie nicht verstehen konnte. Beinahe hätte sie das Buch wieder in den Schrank zurückgeschoben, aber sie zwang sich, es in der Hand zu behalten. Dies gehörte mit zum Vermächtnis ihres Vaters. Sie würde nicht zulassen, dass alles, was er ihr gegeben hatte, von den Yakuza und den Vampiren verunglimpft wurde.
    Sie hatte das Buch von zu Hause in ihre verschiedenen Universitätswohnungen und anschließend in eine Folge von Apartments mitgenommen, es aber nie gelesen. Das bin ich ihm schuldig, dachte sie. Ich bin es ihm schuldig, mir die Schönheit anzusehen, an die er glaubte.
    Lisa trug das Buch zur Couch und machte es sich zum Lesen in den Kissen bequem. Einen kurzen Augenblick lang kam in ihr ein Schuldgefühl auf, da ihr Auge immer wieder zu der englischen Übersetzung der Verse hingezogen wurde. Aber jetzt war es zu spät, zu bedauern, dass sie nie mehr

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