Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
Körper wieder neben die Straße legen, so dass man ihn finden und einäschern kann, wie es sich gehört. Ich glaube nicht, dass irgendjemand über die zwei winzigen Male an seiner Kehle nachdenken wird.
Sein Blut blieb nicht sehr lange in mir, aber ich hoffe, dass es genug war, um mich die nächsten Nächte bei Kräften zu halten. Ich muss diesen Ort verlassen, ehe die Bürokratie, die bei Katastrophen einsetzt, anfängt, hier das Regiment zu übernehmen. Das wird natürlich nicht ausreichen. Wahrscheinlich gibt es auf der ganzen Welt nicht genug Medizin, um die Wunden zu heilen, die ich gesehen habe. Ganz sicherlich gibt es in Japan nicht mehr genug Medizin. Ich bin dankbar, dass mir das zumindest erspart bleiben wird, der lange Alptraum des qualvollen Sterbens.
Ich will nicht daran denken, jetzt weiterzuziehen. Meine Kehle schmerzt. Ich fühle mich desorientiert, verspüre ein seltsames Delirium – wahrscheinlich, weil ich zum ersten Mal seit Jahrhunderten den ganzen Tag wach gewesen bin. Selbst meine Finger fühlen sich taub an, und mittlerweile fällt mir das Schreiben schwer.
Ich glaube, es ist vorbei. Der Krieg, die Träume der Regierung von einem Weltreich und von Expansion, der alte schreckliche Glaube der Nation an ihre eigene, unvermeidliche Größe.
Für mich ist es auch vorbei. Ich habe hundert Jahre des Friedens und des Wohlstands erlebt, ja sogar des Seelenfriedens. Ich glaube nicht, dass ich es je wieder so gut haben werde. Und wann auch immer das sein wird, wann auch immer sich in mir der Gedanke regen sollte, ich sei über das hinausgewachsen, was ich bin, dann werde ich mich bloß an das Blut eines verbrannten, sterbenden Jungen erinnern müssen.
Ich habe dieses Tagebuch mehr als neunhundert Jahre lang behalten. Ich habe geglaubt, es sei wichtig, eine Aufzeichnung über mein Leben zu führen. Ich habe daran geglaubt, dass die Macht der Worte über die Zeit hinausreicht und länger lebt, als selbst ich hoffen kann, zu existieren.
Aber für diesen Tag gibt es keine Worte, keine von Belang. Ich werde noch eine Zeile schreiben und dann dieses Tagebuch beiseitelegen, vielleicht für immer.
Die Welt ist zu einem Ende gekommen, und selbst ich, der ich das Ende und den Tod so sehr gewöhnt bin, muss mich grämen – ob ich es will oder nicht.
32
This road,
I have long been told,
Man travels in the end -
Yet I had not thought to go
Today or yesterday.
Tales of Ise
Diese Straße,
So hat man mir vor langer Zeit gesagt,
Wird der Mensch am Ende gehen –
Aber ich hatte nicht gedacht,
sie heute oder gestern zu beschreiten.
Geschichten der Ise
Als Ardeth am Flughafen eintraf, hatte sie noch zwanzig Minuten Zeit, die ihr gerade ausreichten, um den Bereich für Privatmaschinen zu finden. Schließlich entdeckte sie am Ende eines langen Korridors Akikos schwarz gekleidete Gestalt, die gerade ihre Aktentasche und einen Koffer aufhob. Sie rannte auf Akiko zu, ohne auf die verblüfften Blicke zu achten, die sie damit auf sich zog. Schließlich holte sie die Japanerin an der Tür, die zur Startbahn führte, ein. »Ich habe es mir anders überlegt«, stieß sie außer Atem hervor und sah die junge Frau zum ersten Mal lächeln.
Ardeth war noch nie zuvor mit einer privaten Chartermaschine geflogen. Sie und Akiko saßen alleine im Passagierabteil. Es gab keine Crew außer den beiden Piloten. Falls sie noch irgendwelche sterblichen Bedürfnisse gehabt hätte, hätte man diesen ohne Zweifel entsprechen können, denn an Bord befanden sich eine Bar und eine Bordküche von einiger Größe. Für sie bedeutete dies einen ersten Schimmer davon, was dieser andere Vampir – Sadamori Fujiwara – sein mochte. War es möglich, dass er im Gegensatz zu ihr und Rossokow den Klischeevorstellungen entsprach, denen sie beide nicht entsprachen? Reich statt arm, mächtig statt gehetzt. Und wenn diese Klischeebilder eines Vampirs auf ihn zutrafen, galt das dann auch für die anderen – grausam, dämonisch, amoralisch? Ein Frösteln durchlief sie, und sie war plötzlich froh darüber, nach Banff zurückzukehren. Und wäre es nur, weil sie die Vorstellung nicht ertragen konnte, dass sie Rossokow vielleicht verraten und ihn allein einem Feind ausgeliefert hatte.
Akiko verschwand für ein paar Augenblicke und kam dann gleich wieder mit einer Teekanne und zwei winzigen Porzellantassen zurück. »Möchten Sie gerne welchen haben?«, fragte sie, während sie die aromatische Flüssigkeit in ihre Tasse
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