Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
jedenfalls nicht leugnen. Jetzt, wo sie seinen Namen kannte, wo sie wusste, dass er einmal ein erfolgreicher Geschäftsmann gewesen war, wusste sie auch, dass dieser wilde, in sich zurückgezogene Zustand nicht sein Normalzustand sein konnte. Es bedeutete, dass sein Wahnsinn nur vorübergehender Natur sein mochte. Natürlich war es durchaus möglich, dass er auch im normalen, zurechnungsfähigen Zustand dem unseligen Ruf seiner Artgenossen aus dem Reich der Fantasie gerecht wurde. Aber wenn sie es schaffte, die Mauer niederzureißen, mit der er sich umgeben hatte, würde sie ihn vielleicht davon überzeugen können, dass sie beide Gefangene waren, und ihm helfen können.
Ihm wobei helfen? Bei der Flucht? Warum nicht?, dachte Ardeth und starrte zur Decke. In den endlosen Stunden der letzten Tage waren ihr hundert verzweifelte und völlig unmögliche Pläne durch den Kopf gegangen. Sie waren alle so unwahrscheinlich, dass sie sie unbewusst als aussichtslos abgetan hatte. Es war viel bequemer, sich nach Rettung zu sehnen, nach der göttlichen Intervention, die sie irgendwie aus dieser Tragödie herausholen würde. Aber wenn der Vampir ihr half, waren ihre Pläne dann immer noch so unmöglich? Sie fügte Rossokow in die Szenarien ein und überdachte einige davon noch einmal. Es half nicht viel. Keiner der Männer, die sie gefangen gesetzt hatten, benahm sich in ihrer Umgebung unvorsichtig. Geschweige denn, wenn er sich in Rossokows Nähe begab. Sie waren sorgsam darauf bedacht, sich außer Reichweite des Vampirs zu halten, wenn sie nicht gerade mit dem stachelbewehrten Stock oder dem Ultraschallgerät bewaffnet waren. Aber der Vampir war so lange passiv und in sich gekehrt gewesen, dass sie vielleicht mit nichts anderem von ihm rechneten. Vielleicht, wenn Rossokow ›normal‹ wäre und Wilkens nur einen Augenblick lang nicht aufpassen würde …
Ardeth seufzte und schloss die Augen, entmutigt von den minimalen Chancen, die sie sich ausrechnete. Selbst wenn Rossokow sich erholte, selbst wenn man ihn dazu überreden könnte, anstatt sie die Männer anzugreifen, selbst wenn einer der Wächter wirklich unvorsichtig sein sollte, würde sie dann die Chance erkennen, wenn sie sich bot? Und würde sie imstande sein, sie zu nutzen? Würde sie den Mut haben, die geringe Sicherheit, die sie im Moment besaß, aufs Spiel zu setzen? Die Lähmung, die sie schon zuvor erfasst hatte, stellte sich abermals ein. Sie spürte, wie sie am Rande der Verzweiflung schwebte, fühlte die heißen Tränen hinter ihren Augen. Sie zwang sich zu ihren ursprünglichen Überlegungen zurück. Flucht oder nicht, sie musste den Versuch machen, den Vampir davon zu überzeugen, dass ihr Wert über den einer Nahrungsquelle hinausging.
Ardeth wälzte sich auf den Bauch und sah zu Rossokow hinüber. Er hatte seine übliche Haltung wieder eingenommen, saß auf der Pritsche, die Arme auf die Knie gestützt, und starrte zu Boden. Sein Gesicht war so starr, dass es wie das in Stein gehauene Bild einer fremden Gottheit aussah, gnadenlos und seiner Umwelt entrückt. Die Angst, die sie vor ihm empfand, drängte sich in ihr Bewusstsein zurück. Ein eisiger Schauer überlief sie.
Ach, zum Teufel, dachte sie schließlich. Was hatte sie denn zu verlieren? Und wenn sie mit ihm redete, hatte sie wenigstens etwas zu tun.
Sie zog sich die Decke über die Schultern und stand auf, einen Augenblick lang unsicher und von Zweifeln geplagt. Ehe der Mut sie ganz verließ, trat sie an die Gitterstangen. Sie setzte sich ein oder zwei Fuß vom Rand der Zelle entfernt auf den Boden, so dass Rossokow sie sehen konnte, wenn er den Kopf hob.
»Rossokow.« Keine Reaktion. »Ich weiß, Sie können mich hören. Vor denen können Sie sich verstecken … Ich weiß, dass Sie das tun. Aber vor mir brauchen Sie sich nicht zu verbergen.« Sie hielt inne, wartete, aber er regte sich nicht. »Also gut, Sie brauchen nicht zu reden. Ich nehme an, es ist eine Weile her, dass Sie sich zuletzt mit jemandem unterhalten haben. Sie brauchen nur zuzuhören. Mein Name, für den Fall, dass Sie es vergessen haben, ist Ardeth Alexander …« Und dann redete sie weiter. Sie erzählte ihm von sich, ihrer Doktorarbeit, von Sara, Tonys Tod, ihrem Verdacht bezüglich Armitage, dem Mord an Con, ihrer Entführung. »Und hier sind wir nun also. Ich frage mich, wie viele waren wohl vor mir hier?« Die Frage war rein rhetorisch gemeint; sie hatte aufgehört, von ihm eine Reaktion zu erwarten.
»Ich weiß es nicht.«
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