Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
durchströmten. Selbst Roias konnte ihnen jetzt nichts anhaben.
Der Gedanke an Roias riss sie aus ihrer Benommenheit, und ihr Herz raste bei dem Gedanken an die Ungeheuerlichkeit dessen, was sie fast zugelassen hätte. »Rossokow, halt«, zischte sie und fing an, ihm ihren Arm zu entziehen, presste sich gegen die Stangen, um den eisernen Griff seiner Finger zu lösen. »Halt!« Er hob knurrend den Kopf, und seine Finger klammerten sich brutal um ihr Handgelenk. In seinen grauen Augen glühte der Hunger nach Blut, und seine Oberlippe zog sich von den Eckzähnen zurück, die scharf wie Nadeln waren. Er hatte Blut um den Mund. »Rossokow«, flüsterte Ardeth, von plötzlichem Schrecken erfüllt.
Nach einem Augenblick begann sich der Wahnsinn zu lösen, und sie sah, dass die scharfen Konturen seines Gesichts ein wenig weicher geworden waren. Er wirkte jetzt näher an dreißig als an sechzig. »Ardeth.« Ihr Name war nicht viel mehr als ein Hauch. Der Griff um ihren Arm lockerte sich, auch wenn er sie nicht losließ. Seine Augen suchten einen Moment lang ihr Gesicht ab, als wollte er es sich einprägen. Dann neigte er den Kopf wieder herab. Sie hielt ängstlich den Atem an, aber diesmal berührte lediglich seine Zunge ihre Haut, strich sanft über die Wunden an ihrem Handgelenk. Seine Zunge glitt über ihre verletzten Finger, und sie verspürte ein entferntes Pulsieren widerstrebenden Begehrens in sich aufwallen.
Rossokow hob den Kopf und umschloss ihre Finger kurz mit den seinen. »So wird es schneller heilen«, sagte er langsam und schob dann ihren schlaffen Arm durch die Gitterstangen zu ihr zurück.
»Danke«, sagte sie automatisch. »Sind Sie … Sind sie okay?« Sie blinzelte, als die Welt vor ihren Augen zu verschwimmen begann.
»Sie müssen etwas essen. Ich war …«, er hielt inne, plötzlich verlegen, »unvorsichtig.« Er zog sich abrupt zurück, der Hauch eines Schattens huschte über sein Gesicht. Dann zog er sich auf seine Pritsche zurück. Ardeth beobachtete ihn einen Augenblick lang und versuchte dann aufzustehen. Sie schaffte es kaum, sich auf die Knie zu erheben. Rossokow hatte Recht, sie musste etwas essen. Sie kroch schwerfällig zu dem Tablett und verschlang heißhungrig das kalte Steak, spülte es mit dem Orangensaft hinunter. Den Schokoladenriegel verzehrte sie langsamer, die dünne Decke um die Schultern gewickelt, und wartete darauf, dass das Frösteln aufhörte.
8
Sie musste eingeschlafen sein. Als sie aufwachte, saß sie immer noch aufrecht auf der Pritsche. Ihr Nacken war steif von dem unnatürlichen Winkel, in dem sie ihren Kopf an die Wand gelehnt hatte. Das leere Tablett stand neben ihr auf der Pritsche; sie beugte sich vor, um es auf den Boden zu stellen, und bedauerte ihren Entschluss augenblicklich, als ihr davon schwindlig wurde. »Verdammt«, murmelte sie, streckte sich auf der Matratze aus und versuchte, den hämmernden Schmerz an ihren Schläfen durch schiere Willenskraft zu verdrängen.
Aber es wollte sich kein Schlaf einstellen. Von dem Steak und dem Fruchtsaft mit neuer Energie versorgt, hatte ihr Körper die Kraft, die er zusammen mit ihrem Blut verloren hatte, wieder zurückgewonnen. Diese Erkenntnis führte zwangsläufig zu der Erinnerung an das, was sie zuvor getan hatte. In dem schwachen Licht des Kellers sah Ardeth mit unruhiger Neugierde auf ihre Hand. Die Schnitte an ihren Fingern hatten bereits zu heilen begonnen, und die Spuren an ihrem Handgelenk waren nur noch Nadelstiche.
Es war schierer Wahnsinn gewesen, die Hand in jene Zelle zu stecken. Selbst in geschwächtem Zustand wäre der Vampir durchaus imstande gewesen, sie so lange festzuhalten, bis er jeden Tropfen ihres Blutes aus ihr herausgesaugt hätte. Aber das hatte er nicht getan. Rossokow hatte gewartet, bis sie sich ihm angeboten hatte, und war dann sorgfältig darauf bedacht gewesen, sie nicht unnötig zu verletzen. Sie erinnerte sich an Suzys verwüstete Kehle und betastete die Spuren an ihrem Handgelenk erneut. Nein, es tat nicht weh, dachte sie, ohne es zu wollen. Ein paar Augenblicke lang hatte sie es sogar genossen. Vielleicht litt sie an einer Variante des sogenannten Stockholm-Syndroms, und ihre Loyalität hatte sich verlagert, galt jetzt ihrem … ihrem was? Ihrem Killer? Eher ihm als denen, die sie gefangen genommen hatten.
Was auch immer die Gründe dafür sein mochten, dass sie ihre anfängliche blinde Angst vor dem Vampir hinter sich gelassen hatte. Dass es sich so verhielt konnte sie
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