Die Nacht in mir: Roman (German Edition)
Ardeth aus. Sie würde ihr Haar abschneiden und es färben müssen. Sie griff sich in die lose herunterhängenden Strähnen. Sie musste dringend duschen. Ihr neuer Vampirkörper schien nicht zu schwitzen, aber ihr alter menschlicher Körper hatte tagelang ohne ein ordentliches Bad auskommen müssen. Sie sah auf den Radiowecker auf dem Nachttisch. Es war vier Uhr dreißig morgens – ob wohl jemand in dem Gebäude wach war und die Geräusche wahrnehmen würde, die aus ihrem angeblich verlassenen Apartment drangen? Sie überlegte einen Augenblick lang und entschied dann, dass das Risiko gering war. Sie ging ins Badezimmer und schloss leise die Tür hinter sich. Sie zog sich unter dem hellen Licht der Deckenlampe aus und starrte ihren Körper dann einen Augenblick lang an. Die Prellungen und Kratzer waren alle verblasst, waren gleichzeitig mit ihrer Verjüngung geheilt. Aber sie wirkte immer noch bleich und abgekämpft. Selbst das Blut, das sie während des Gemetzels in der Irrenanstalt getrunken hatte, hatte nicht ausgereicht, um die Tage der Strapazen auszubügeln.
Sie wandte sich vom Spiegel ab und beugte sich über die Badewanne. Sie drehte die Wasserhähne auf und hielt zögernd einen Finger unter den Wasserstrahl. Wieder ein Mythos widerlegt; das Wasser war allenfalls ein wenig zu warm.
Sie trat mit einem wohligen Seufzer unter die Dusche und genoss das warme Wasser auf ihrer Haut. Sie schrubbte den Schweiß, den Schmutz und die Angst weg, wusch das Fett und die Verzweiflung aus ihrem wirren Haar. Sie verbrachte viel mehr Zeit als nötig unter dem wohltuenden Wasserstrahl. Anschließend säuberte sie das Badezimmer gründlich, wischte Dusche und Wände ab und faltete das Handtuch dann zusammen und legte es zurück in den Schrank. Wenn nicht jemand in der nächsten Stunde das Zimmer gründlich inspizierte, würde niemand sagen können, dass sie da gewesen war.
Ardeth hob die Kleider auf, die sie weggelegt hatte, und tappte ins Schlafzimmer, ohne sich die Mühe zu machen, das Licht einzuschalten. Jetzt, wo sie sauber war, verspürte sie keine Lust, die gestohlenen Kleider wieder anzuziehen. Andererseits, wie viel durfte sie wagen, aus ihrem eigenen Kleiderschrank zu nehmen? Wie viel wollte sie überhaupt davon haben? Die Kleider waren die zweite Haut der alten Ardeth, und die hatte sie mit dem Schmutz abgelegt, der ihren untoten Körper bedeckt hatte. Am Ende entschied sie sich für saubere Unterwäsche, ein Black-Sun-T-Shirt, das Sara der untersten Schublade gestiftet hatte, und ihre alten schwarzen Laufschuhe. Sie schlüpfte wieder in die gestohlenen Jeans und behielt Roias’ Lederjacke. Die anderen schmutzigen Kleider ließ sie neben der Tür, um sie später, wenn sie das Gebäude verließ, in eine Mülltonne zu werfen.
Sie überlegte, ob es sonst noch etwas gab, das sie mitnehmen sollte. Dies würde schließlich das letzte Mal sein, dass sie sich hier aufhielt. Die meisten Sachen, die ihr vor einer Woche noch etwas bedeutet hatten, waren ihr jetzt gleichgültig. Aber es gab ein oder zwei Dinge, die ihr bei der Erschaffung ihrer neuen Identität nutzen konnten. Sie suchte im Kleiderschrank und den Schubladen herum – sie hatte schon fast aufgehört, sie als ihr Eigentum zu betrachten – und fand eine schwarze Sonnenbrille, die fast bis zu den Schläfen reichte – ein albernes Geschenk von einem Freund, sie wusste nicht einmal mehr, von welchem – und ein Paar Ohrringe. Die Ohrringe waren ein Geschenk von Sara gewesen, eine Art Herausforderung. Sara hatte gesagt, sie würde sie nie tragen. Das hatte sie auch nie. Sie waren zu groß für die Person, die sie damals gewesen war, zu exzentrisch. Jetzt jedoch übten die Engel aus Metall mit ihrem barbarischen Blick und den ausgebreiteten Schwingen sowie die blutroten Steine, die von den Engeln herabbaumelten, eine fast ironische Anziehung auf sie aus. Sie stopfte sie in die Tasche ihrer Lederjacke.
Das Letzte, was sie an sich nahm, war die Bargeldrücklage, die ihr früheres Ich in einem ihrer Bücher verwahrt hatte. Es waren beinahe dreihundert Dollar, und Ardeth stopfte sich die Scheine in die vordere Hosentasche. Selbst Vampire brauchten Geld, dachte sie, schließlich hatte sie noch keine Ahnung, wie sie an neues kommen sollte. Ob sie arbeiten konnte? Die Vorstellung, eine vampirische Nachtschichtarbeiterin zu sein, ließ sie lächeln, während sie den Gedanken abtat. Die alte Ardeth wäre pflichtschuldig losgezogen und hätte sich einen Job in einem
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