Die Nacht von Granada
Freund.« Eine heiße Welle hatte sie erfasst und stieg unbarmherzig in ihr höher, als wollte sie sie verbrennen.
»Ein Freund?« Für einen Augenblick hörte es sich an, als wäre Rashid enttäuscht von ihrer Antwort.
Was hatte er erwartet? Dass sie sich ihm blindlings an den Hals warf – und er sie zurückweisen konnte?
»Wieso sollte ich hierherkommen?«, sagte sie. »Nur um wieder lauter Ausflüchte zu hören? Weißt du, was ich damit riskiere? Mein Vater würde aus der Haut fahren, sollte er davon erfahren!«
Rashid begann zu lachen. »Was bist du nur für ein seltsames Mädchen!«, rief er. »Mutig wie eine Löwin, die sich furchtlos in die gefährlichsten Gefilde wagt – und dann im nächsten Moment ängstlich wie ein Zicklein, das nach seiner Mutter blökt!«
Sie zuckte zurück, und erst jetzt schien ihm bewusst zu werden, was er soeben gesagt hatte.
»Es tut mir leid!«, murmelte er. »Ich wollte dich nicht verletzen. Ausgerechnet deine Mutter ins Spiel zu bringen, die du niemals gekannt hast! Manchmal kann ich ein richtiger Idiot sein.«
Schweigend starrte Lucia ihn an.
»Es war gut, dass du mich gesucht hast«, sagte Rashid, »denn nun kannst du meinen Leuten sagen, dass sie sich keine Sorgen machen sollen. Ich melde mich bei ihnen, sobald es möglich ist. Vielleicht sogar schon sehr bald. Und jetzt geh zurück nach Hause, meine tapfere kleine Botschafterin!«
Er kam näher und immer näher, bis er direkt vor ihr stand. Dann strich er ihr zart über die Wange. Lucia fühlte, wie das Blut in ihren Kopf schoss, doch es war mittlerweile zu dunkel geworden, um sie zu entlarven.
Jetzt berührte auch seine linke Hand ihr Gesicht.
»Beweg dich nicht«, murmelte er. »Ich möchte mich immer an diesen kostbaren Augenblick erinnern.«
Sie hörte seinen Atem, spürte die Wärme seiner Finger. Ihr Herz schlug so hart gegen die Rippen, dass sie Angst hatte, er würde es hören. Langsam glitten seine Hände tiefer, berührten ihren Hals, die kleine Kuhle in ihrer Kehle.
»Wie warm du bist«, murmelte er. »Voller Leben!«
Plötzlich spürte sie seine Lippen auf ihrem Mund, trocken und heiß, und sie hörte, wie ein Seufzer sich seiner Kehle entrang. Lucia wollte die Arme um ihn schlingen, sich fest an ihn schmiegen und ihn am liebsten nie wieder loslassen – da war es auch schon vorbei.
Rashid trat einen Schritt zurück, als hätte er sich verbrannt. In der Dunkelheit sah sie seine unergründlichen Augen glitzern.
»Verzeih!«
Hatte er das wirklich gesagt?
Ihr blieb nur noch, ihm nachzuschauen, denn Rashid hatte sich blitzschnell umgedreht und war losgerannt, bis die Nacht ihn verschluckt hatte.
Lucia blieb stehen, taumelig, wie von Sinnen. Langsam fuhr ihre Hand zum Mund, wo sie eben noch den Druck seiner Lippen gespürt hatte.
Wie konnte sie jetzt nach Hause gehen? Alles musste doch auf ihrem Gesicht wie in einem aufgeschlagenen Buch zu lesen sein!
Und doch hatte sie keine andere Wahl, wollte sie den Vater nicht unnötig aufbringen. Nur mit großer Mühe gelangen ihr die ersten Schritte, die erst allmählich wieder geschmeidiger wurden, während sich in ihrem Herzen eine wilde Freude auszubreiten begann.
Rashid hatte sie geküsst!
Auf einmal hätte sie tanzen mögen und singen, so laut, dass das ganze Viertel zusammenlief.
Ich bin ihm nicht gleichgültig, dachte sie, innerlich jubelnd. Er mag mich. Vielleicht …
»Lucia?«, hörte sie auf einmal eine bekannte Männerstimme. »Was machst du denn so spät hier im Dunklen – und ganz allein?«
Als hätten ihre Beine einen stummen Befehl erhalten, bewegten sie sich nur umso schneller voran.
»Lucia, so warte! Ich kann dich doch begleiten. Ich bringe dich sicher nach …«
Inzwischen rannte sie regelrecht – sie wollte so schnell wie möglich weg von diesem aufdringlichen Miguel, der mit seinem munteren Rufen gerade dabei war, den Zauber dieses unvergesslichen Abends zu zerstören.
Irgendwann schien er aufgegeben zu haben, ihr hinterherzubrüllen. Lucia konnte nur hoffen, dass inzwischen nicht das halbe Viertel an den Fenstern klebte, begierig auf Klatsch und Gerüchte, die die Leute bei nächster Gelegenheit an den Vater weitergeben würden.
Ob Miguel ihr aufgelauert hatte? Was wollte er von ihr?
Vielleicht wäre es besser, Nuri und sie wären ihm niemals begegnet. Dann gäbe es allerdings auch nicht Fuego, der ihnen schon so viel Freude bereit hatte!
Als sie den Lichtschein sah, der aus den vergitterten Fenstern der Werkstatt drang,
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