Die Nacht von Granada
mich zum Taufbecken schleifen?«
»Es geschah alles nur zu deinem Besten …«
»Mein Bestes!«, fiel sie ihm ins Wort. »Meine Mutter weint, mein Bruder ist verschwunden …« Nuri hielt plötzlich inne. »Sag nur, Rashid ist auch getauft worden!«
Kamal schüttelte den Kopf. »Er konnte im letzten Moment entkommen. Aber sie werden nicht von ihm ablassen, denn er hat sie öffentlich provoziert.« Aufgebracht wandte er sich an Saida. »Wieso hast du ihnen gesagt, unser Sohn sei tot? Früher oder später werden sie herausbekommen, dass es eine Lüge war!«
Wie eine ausgehungerte Löwin ging sie auf ihn los. »Weil ich meine Familie schütze«, schrie sie. »Bis zum allerletzten Atemzug. Und weil ich nicht zulasse, dass Ungläubige sie beschmutzen und in Gefahr bringen!«
»Du hast doch ihre Waffen gesehen«, antwortete er und wurde ebenfalls laut. »Die setzen sie ein, darauf kannst du dich verlassen! Sie werden zurückkommen …«
Saida machte eine Geste, als wolle sie sich auf ihn stürzen, doch entschlossen sprang Nuri dazwischen.
»Hört endlich auf!«, rief sie. »So kommen wir nicht weiter. Anstatt uns gegenseitig anzuschreien, sollten wir lieber nach Auswegen suchen.«
»Es gibt keinen Ausweg«, sagte Saida dumpf. »Wer vom Propheten abfällt, ist des Todes.«
»Das sieht Imam Hasan anders«, wandte Kamal ein. »Ich war heute bei ihm. Und viele andere Brüder haben ebenfalls seinen weisen Rat eingeholt. Hier ist, was er mir gesagt hat.«
Es wurde still im Haus, als er zu reden begann. Das Herdfeuer brannte herunter, das unberührte Abendessen wurde kalt.
Als er schließlich geendet hatte, senkte sich beinahe so etwas wie ein kleiner Frieden über die Familie.
Als die Schatten über Granada tiefer wurden, spürte Lucia, dass der Winter nicht mehr weit war. Der Herbst hatte seine schmeichelnde Wärme abgelegt und zeigte sich von seiner unangenehmeren Seite. Wild blies der Wind ins raschelnde Laub unter ihren Füßen. Kühle kroch unter ihren Rock.
Sie zog das Tuch enger um sich.
Was tat sie eigentlich hier? Wenn jemand sie erkannte und ihrem Vater Bescheid sagte, war die nächste Strafpredigt fällig – und vermutlich sogar viel mehr als das. Er würde sie einsperren, nicht anders als Saida und Kamal es mit Nuri machten. Wahrscheinlich hatte sie alles ohnehin nur falsch verstanden. Rashid hatte gewiss Besseres zu tun, als sich hier mit ihr am Fluss zu treffen.
Als sie ihn schließlich doch auftauchen sah, eine alte Wolldecke um die Schultern gewickelt, um sich gegen die aufsteigenden Abendnebel zu schützen, war sie so erleichtert, dass ihre Augen feucht wurden.
»Du bist gekommen«, hörte sie ihn murmeln. »Ich hatte schon Angst, du hättest mich nicht verstanden. Lass uns hinter die Schänke gehen. Es ist besser, wenn wir nicht zusammen gesehen werden!«
Ich verstehe dich immer, dachte Lucia mit klopfendem Herzen und wünschte, sie hätte auch den Mut, es laut auszusprechen.
»Was hast du im alten Judenviertel zu suchen?«, sagte sie stattdessen und versuchte, die Ratten ebenso zu ignorieren wie den Gestank nach Abfall. »Bereitet ihr dort euren Widerstand vor?«
»Besser, wenn du so wenig wie möglich darüber weißt«, sagte Rashid. »Ich möchte nicht auch noch dich in Gefahr bringen. Was du vorhin über meine Familie gesagt hast, ist schon schwer genug zu ertragen. Ich wollte ihnen doch niemals Kummer bereiten!«
»Aber genau das tust du! Sie sterben halb vor Sorge um dich«, sagte Lucia heftig – und meinte dabei doch vor allem sich selbst.
Wieso schaute er sie so eindringlich an? Noch war es hell genug, um dem Zauber seiner Augen zu erliegen.
»Du weißt, was geschehen ist?«, fragte Rashid.
Sie schüttelte den Kopf. »Ich weiß nur, dass wir dich alle vermissen.« Hatte sie das gerade wirklich gesagt?
»Du auch?«, sagte er leise.
Sie nickte, unfähig, jetzt auch nur ein Wort herauszubekommen.
»Ich bin gefährlich für dich«, hörte sie ihn sagen. »Viel gefährlicher, als dir vielleicht bewusst ist. Wir sind über Jahre beinahe wie Geschwister aufgewachsen …«
»Nuri ist meine Schwester«, unterbrach sie ihn. »Und wird es immer bleiben, was auch geschieht. Du aber bist …« Sie hielt inne. Durfte sie ihm zeigen, wie es in ihr aussah?
Alles in ihr schrie danach.
»Was bin ich für dich, Lucia?« Seine Hand berührte sanft ihr lockiges Haar und vor Aufregung und Glück vergaß sie beinahe zu atmen.
»Auf jeden Fall kein Bruder«, stieß Lucia hervor. »Eher ein …
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