Die Nacht von Granada
Nachmittag?«
»Als ich so tat, als hätte ich dein Rufen nicht bemerkt?« Sie spürte, wie er ein Stück zurückwich. »Du hast wohl noch immer nichts verstanden, Lucia…«
»Dann erklär es mir«, forderte sie.
»Ich hab mein Elternhaus nicht zum Spaß verlassen und schlafe auch nicht zum Spaß auf nacktem Boden. Die Rotkappen sind hinter mir her, und wenn sie mich zu fassen bekommen …« Seine Stimme erstarb. »Wir sind mitten im Krieg, auch wenn er offiziell noch nicht erklärt worden ist. Es kann keinen Frieden mehr geben zwischen Christen und Moslems. Nicht, solange sie uns so dreist all unserer Rechte und Freiheiten berauben!«
»Aber ich bin doch Christin und du glaubst an Allah, und dennoch sind wir …«
»Das ist ja gerade das Schlimme daran.« Seine Stimme klang traurig. »Ein paar Jahre früher hätte das keine große Rolle gespielt. Jetzt aber trennt uns auf einmal ein tiefer Graben.«
»Dann bleib doch auf deiner Seite!« Sie war urplötzlich so laut geworden, dass er sich nicht anders zu helfen wusste, als ihr beschwichtigend seine Hand auf den Mund zu legen.
Seine Finger waren warm und lebendig. Es war ein süßes Gefühl, sie sich tiefer vorzustellen, an ihrem Hals, auf ihrer Brust …
Lucia wurde schwindelig vor Glück.
Licht anzumachen, wagte sie nicht, doch inzwischen hatten ihre Augen sich halbwegs an die Dunkelheit gewöhnt. Sie sah nicht alles von ihm, doch was sie erkennen konnte, genügte, um sie noch sehnsüchtiger werden zu lassen.
Wie gern hätte sie ihm von dem verschwundenen Saphir erzählt und in welcher Gefahr ihre Väter seitdem schwebten, doch ein Teil von Rashid war ohnehin nicht bei ihr, das spürte sie deutlich, und sie hatte Angst, noch mehr von ihm zu verlieren, wenn sie jetzt damit anfing.
»Bist du denn wieder vernünftig?«, hörte sie Rashid schließlich sagen.
Als sie nickte, löste er seine Hand.
»Ich weiß nicht, wie es ausgehen wird«, sagte er. »Niemand weiß das. Doch wie es aussieht, stehen die Zeichen auf Kampf. Wir beide werden uns in nächster Zeit kaum sehen können, und wenn doch, so muss ich vielleicht so tun, als hätte ich dich niemals gekannt. Aber das hat nichts mit uns zu tun, verstehst du? Bitte vergiss das nicht!«
Lucia nickte abermals.
»Niemand darf wissen, was zwischen uns ist«, fuhr er fort. »Auch Nuri nicht, das musst du mir versprechen!«
»Was ist denn zwischen uns?« Ihre Lippen bebten.
»Sie könnten euch zwingen, etwas über mich zu verraten – gewaltsam. Sie fackeln nicht lange, das habe ich selbst zu spüren bekommen. Um ihre Ziele zu erreichen, schrecken sie vor nichts zurück. Behalte alles in deinem Herzen, Lucia. Da ist es am besten aufgehoben.«
»Es macht mir Angst, wenn du so redest!«, rief sie.
»Vielleicht geschieht ja doch noch ein Wunder«, sagte Rashid, »und Christen und Muslime finden einen Weg, ohne sich gegenseitig abzuschlachten. Aber Wunder sind leider sehr selten.«
»Du darfst nicht sterben«, rief sie angstvoll.
»Das habe ich auch nicht vor.« Er klang grimmig. »Aber kämpfen, Lucia, kämpfen werde ich.«
Er beugte sich tiefer über sie. Sie roch seinen Duft, den sie so vermisst hatte, vermischt mit etwas anderem, Bitterem, das ungewohnt für sie war.
Unwillkürlich schrak sie zurück.
»Eine neue Medizin.« Er schien ihre Gedanken lesen zu können. »Blätter und Beeren, die du abkochst und danach durch ein Sieb gibst. Drei Becher davon, hintereinander geleert – und du brauchst nicht mehr zu schlafen. Könnte nützlich werden, wenn die Kämpfe beginnen.«
Er zog sich langsam zurück.
»Rashid!« Lucia versuchte, ihn mit beiden Armen festzuhalten, als das Knarren einer Tür sie zusammenzucken ließ.
»Höchste Zeit, dass ich wieder verschwinde!«
Sie spürte seine Lippen auf ihrem Haar, dann auf der Stirn, schließlich streiften sie ihren Mund und verharrten dort für einen köstlichen, viel zu kurzen Augenblick.
»Du kannst doch jetzt nicht gehen!«, flüsterte sie.
»Ich komme wieder«, sagte Rashid, und es klang, als ob er lächelte. »Versprochen! Den Weg zu dir finde ich ja wie im Schlaf!«
6
A ls Kamal erkannte, wer da durch das raschelnde Laub auf dem Hauptweg stapfte, war es schon zu spät, um noch rechtzeitig die Flucht antreten zu können. Kamal, der gerade in einem kleinen Graben stand, der parallel zum Hauptweg verlief, senkte den Kopf und machte sich kleiner, während er seinen Rechen so lautlos wie möglich weiterschob. Wie froh war er gewesen, sein Zuhause
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