Die Nacht von Granada
als wöge er kaum mehr als ein Kind?
Unschlüssig blieb Lucia mit ihrer Öllampe gleich hinter der Tür von Kamals Haus stehen.
Sie wollte unbedingt zu Rashid – dieser Gedanke hatte sie aus dem Bett getrieben, die Treppe hinunter, bis zu dem Versteck, wo ihr Vater sonst seinen Schlüssel verbarg.
Doch es war leer gewesen. Unwillkürlich hatte sie die Klinke der Haustür bewegt – nicht einmal abgeschlossen!
»Er ist in die Schänke gegangen«, hatte sie plötzlich Djamilas Stimme neben sich vernommen. »Um seinen Kummer in Wein zu ertränken. Glaubst du, das wird ihm helfen? Oder macht es ihn nur noch verzweifelter?«
»Ich muss hinüber«, hatte Lucia gemurmelt. »Zu …«
»… Rashid.« Ein kurzes Lachen. »Wenn du meinst, ich hätte keine Augen im Kopf, dann hast du dich geirrt. Aber beeil dich. Du solltest wieder im Bett liegen, bevor Antonio zurück ist.«
»Rashid?«, rief sie nun noch einmal. »Ich kann dich hören. Wo bist du?«
Plötzlich wurde sie von hinten ungestüm gepackt. Die Hände, die ihre Arme nach hinten bogen, waren klein und heiß, aber kräftig.
»Rühr dich bloß nicht, sonst bist du des Todes!«, sagte eine Kinderstimme. »Du hast Pech. Das hier ist unser Haus!«
Vor ihr tauchte eine zweite zerlumpte Gestalt auf, ein Junge, klein und mager, von der Gestalt her kaum älter als zwölf. Seine Beine waren dünne bräunliche Stecken und die Djellaba spannte über einem aufgetriebenen Kinderbauch.
»Mein Bruder hat recht«, sagte er. »Du bist uns im Weg! Du musst sterben.«
»Lass sie sofort los!« Rashids Stimme war rau. »Sonst werde ich euch frechem Diebespack eine Lektion erteilen, die ihr niemals vergessen werdet. In ein muslimisches Haus einzudringen, das die Rotkappen geschändet haben, um Beute zu machen! Schämt ihr euch denn gar nicht? Dafür hättet ihr verdient, auf ewig in der Feuergrube zu schmoren!«
»Aber wir haben solchen Hunger.« Der Junge, der Lucia gepackt hatte, ließ sie nun los. »Und die Tür stand doch einen Spalt offen. Wir sind schon oft in solche Häuser gegangen. Um den Ratten zuvorzukommen.«
Rashids Miene war noch immer abweisend. »Wieso fragt ihr nicht eure Eltern nach Essen?«, sagte er. »Die haben doch für euch zu sorgen.«
»Die sind schon lange tot. Und der Mann auch, der uns zum Betteln abgerichtet hat. Die Leute geben kaum noch etwas her, selbst wenn man es schlau anfängt. Seitdem sind wir auf Stehlen angewiesen«, sagte der Ältere.
»Kein Maure darf einen anderen bestehlen.« Rashid schüttelte ihn unsanft, während Lucia sich unauffällig nach ein paar Essensresten bückte.
»Hier«, sagte sie und hielt den Kleinen Brot, ein paar Feigen und ein reichlich ramponiertes Käsestück entgegen. »Und jetzt macht, dass ihr verschwindet – sonst überlegt er es sich vielleicht noch einmal anders!«
Die beiden beeilten sich, das Weite zu suchen.
Jetzt erst hatte Lucia Gelegenheit, sich richtig umzusehen.
»Sie haben schrecklich bei euch gewütet«, sagte sie. »Das anzusehen, muss eine Qual für dich sein, aber auch mich macht es sehr unglücklich, das sollst du wissen. Hier war stets mein zweites Zuhause, solange ich denken kann.«
»Wer gibt ihnen das Recht dazu?«, begehrte er auf. »Sie waren hinter mir her – aber das bedeutet doch nicht, dass sie alles niedermachen dürfen! Sie werden es büßen, Mann für Mann …«
Da war er wieder, jener verlorene Blick, vor dem ihr so bange war!
»Hör zu, Rashid«, sagte Lucia schnell, »ich bin noch einmal gekommen, um mit dir über Gaspar zu reden.«
»Schweig!« Er hielt sich die Ohren zu, als wäre plötzlich alles zu viel für ihn. »Meine Familie sitzt im Kerker, unser Haus gleicht einem Schweinestall – und du kommst schon wieder mit diesem Widerling an! Ich hab jetzt wahrhaft andere Sorgen.«
»Aber du musst mich anhören!« Gegen seinen Widerstand löste sie die Hände. »Ich habe nämlich vergessen, dir etwas Wichtiges zu erzählen. Den blauen Stein haben Nuri und ich zwar nicht bei ihm gefunden …«
»Das weiß ich doch längst!«, unterbrach er sie.
»Aber nicht, dass ich unwillentlich Zeugin seiner Beichte geworden bin!«, sagte Lucia.
»Das Schwein hat gestanden, den Stein gestohlen zu haben?« Rashid starrte sie ungläubig an. »Und das auch noch in deinem Beisein?«
»Nicht wortwörtlich«, musste Lucia einräumen. »Ich war zufällig in San Nicolás und konnte gar nicht anders, als alles mit anzuhören. Er hat im Beichtstuhl von einem Verbrechen gesprochen, das
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