Die Nacht von Granada
Stufen nach oben, die in den ersten Stock führten, so ungestüm, dass die anderen ihr kaum nachkamen.
Dann standen sie erneut vor einer hohen bewachten Tür.
»Wir alle sind bei dir, aber es ist dein Kampf«, flüsterte Pilar ihr zu. »Und ich weiß, du wirst ihn gewinnen!«
Lucia straffte sich, versuchte sogar ein Lächeln, doch es misslang. Ihre Faust hielt den Ring so fest umschlossen, dass er sich tief in ihr Fleisch grub.
»Hat die Verhandlung bereits begonnen?«, fragte sie mit belegter Stimme.
»Gerade eben«, sagte einer der Soldaten. Der Rest seiner Antwort ging in ohrenbetäubendem Glockengeläut unter.
Lucia drehte sich zu Tante Pilar um, die ihr aufmunternd zunickte.
Dann drückte sie die Klinke herunter und ging hinein.
10
L ucias Augen flogen durch den Raum. Er war hoch, kahl, bis auf ein paar Bankreihen aus grobem Holz, auf denen sich Männer, aber auch einige Frauen dicht an dicht drängten. Lucia erkannte Consuelo, mit deren Anwesenheit sie bereits gerechnet hatte, sowie andere Christen aus dem Albaycín, die ihr vom Sehen her vertraut waren. Alle anderen waren für sie Fremde.
Sie trat einen weiteren Schritt nach vorn, sanft vorangetrieben von Tante Pilars Zeigefinger, der sich unauffällig in ihren Rücken gebohrt hatte, und versuchte verzweifelt, jeden Gedanken an die die schwer bewaffneten Rotkappen auszuschalten, die links und rechts neben der Tür standen.
Vorne links saßen auf kleinen Schemeln Nuri und Saida. Nuri stieß bei ihrem Anblick einen sehnsuchtsvollen Klagelaut aus. Ihr Gesicht war winzig und verweint, ebenso wie das ihrer Mutter, doch bis auf die gebundenen Hände schien man den beiden kein sichtbares Leid zugefügt zu haben.
Gegenüber, auf einer schmalen Holzbank, entdeckte Lucia den Vater, zu ihrer Beruhigung äußerlich ebenfalls unversehrt. Antonios Augen gingen weit auf, als er die kleine Prozession wahrnahm, von seiner Tochter angeführt, die sich gerade in den Raum geschoben hatte. Dann hob er seine Hand, soweit die streng angelegten Fesseln es erlaubten, und deutete auf Kamal.
Als ob das nötig gewesen wäre! Lucia hatte ihn längst erspäht, unter dem Fenster kniend auf einer Art Sünderbank, das einstmals so stolze Gesicht grau und verfallen.
Was hatten sie mit seiner Rechten angestellt?
Wo einstmals seine berühmte Schneidehand gewesen war, in ganz Granada als Instrument seiner Könnerschaft und Präzision bekannt, baumelte jetzt ein hässliches, blutverschmiertes Gebilde aus Haut, Knochen und Sehnen.
Der Anblick fuhr ihr bis ins Mark, und all die klugen Worte, die Lucia sich so sorgfältig den ganzen Weg bis hinauf zur Roten Burg zurechtgelegt hatte, schienen plötzlich wie vom Wind zerstoben.
In ihrem Hals saß ein dicker Kloß. Sie versuchte zu schlucken, um sich davon zu befreien, doch es wurde nur noch schlimmer. Weil sie Angst bekam, daran ersticken zu müssen, begann sie verzweifelt zu husten.
Der Inquisitor hielt mitten in seiner Anklagerede inne.
»Was treibt ihr hier?«, bellte er. »Wer hat euch Vermessenen gestattet, die Würde dieses Gerichts zu stören?«
Aus Furcht, die Stimme könnte ihr versagen, riss Lucia die Hand mit dem Ring nach oben und streckte ihn ihm entgegen.
»Der Ring des Inquisitors«, rief sie krächzend. »Ihr habt nach ihm verlangt. Hier ist er!«
»Ich fordere dich auf, diesen unerhörten Auftritt sofort zu beenden«, schrie Lucero, ohne sich von der Stelle zu rühren. »Hinaus mit dir!«
»Meine Nichte bleibt und wird reden.« Die Stimme Pilars war ruhig und klar. »Sag ihm, was du zu sagen hast, mein Mädchen!« Inzwischen lag ihre feste Hand auf Lucias Schulter und schenkte ihr Wärme und Kraft.
»Ich bin Lucia Álvarez«, begann sie gedämpft, wurde aber mit jedem Wort sicherer und lauter. »Dort drüben sitzt mein Vater Antonio, auf der anderen Seite Saida, meine zweite Mutter, und ihre Tochter Nuri, meine Mondschwester. Der Mann unter dem Fenster, den man so grausam zugerichtet hat, ist Kamal, der mich wie seine eigene Tochter liebt. Sie alle sind unschuldig – jeder Einzelne von ihnen!«
Mehrstimmiges Raunen erhob sich von den Zuhörerbänken.
»Ich fordere dich nochmals auf, zu schweigen …«
»Das wird sie nicht«, rief nun Padre Manolo, dem die Zornesröte im Gesicht stand. »Hört Euch gefälligst an, was sie zu sagen hat!«
»Gaspar Ortíz brachte vor einiger Zeit einen Hyazinth in die Werkstatt meines Vaters, den Kamal umschleifen und mein Vater anschließend in Gold fassen sollte.« Noch
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