Die Nacht von Granada
groben Stricken fesselte.
Lucias Augen suchten nach einem Halt – und fanden keinen.
Dann jedoch fiel ihr verzweifelter Blick auf Kamal, der sie mit einem Ausdruck tiefsten Mitgefühls anlächelte. Seine Schmerzen mussten unerträglich sein, doch sein gütiges Gesicht verriet nichts davon.
»Ich bin stolz auf dich, meine Tochter«, sagte er leise. »Gerade ist es, als hätte man dich mir zum zweiten Mal geschenkt.«
Fuego hatte sie mit kläglichem Maunzen vor der Tür der Werkstatt empfangen, doch als er schließlich Nuri erblickte, schoss er wie ein rötlicher Pfeil auf sie zu und strich ihr schnurrend um die Beine. Den ganzen Weg über hatte Miguel Nuri mehr getragen als geführt, so schwach hatte sie sich gefühlt, doch nun löste sie sich aus seinen Armen und kniete auf dem Pflaster nieder, ohne sich um Schmutz oder Nässe zu kümmern.
»Unser kleiner Held«, murmelte sie, während sie zärtlich über sein weiches Fell strich, denn inzwischen hatte sie von Miguel und Tante Pilar alles erfahren, was seit ihrer Verhaftung geschehen war. »Was hätten wir nur ohne dich getan? Du wolltest uns retten – und hast es sogar geschafft. Aber leider haben sie an unserer Stelle nun Lucia eingekerkert. Und immer noch meinen armen Papa, dem sie alles genommen haben!«
»Kamal darf nicht sterben«, murmelte Pilar mit zusammengebissenen Zähnen. »Ebenso wenig wie mein Mädchen! Padre Manolo muss sich an Erzbischof Talavera wenden und ihm alles berichten. Und dann werden wir ja sehen, was aus diesem Gauner von Lucero wird!«
»Antonio!« Mit einem Glücksschrei flog Djamila dem Wiedergekehrten um den Hals. »Dass ich dich wiedersehe – und ganz gesund! Bald werden wir zu viert sein.« Sie nahm seine Hand, legte sie auf ihren Bauch.
Ein kurzes Lächeln erhellte sein Gesicht, dann wurde es wieder ernst.
Jetzt erst schien Djamila auch Nuri und Saida zu bemerken. »Ihr seid wieder da – wie sehr ich mich darüber freue! Aber wo ist Kamal? Und wo Lucia?«
»Beide sitzen im Kerker«, sagte Pilar an Antonios Stelle. »Sie haben Lucia verhaftet und Kamal trotz erwiesener Unschuld nicht freigelassen.«
»Aber doch nicht unser Mädchen!«, rief Djamala entsetzt. »Das darf nicht wahr sein!«
»Leider doch. Lass uns erst mal hineingehen. Sonst weiß binnen Kurzem die ganze Straße, was man uns angetan hat.«
Seitdem waren lange Stunden vergangen, Stunden voller Erzählen, voller Weinen und mehr oder weniger erfolgreichen Tröstungsversuchen. Jeder hatte versucht, seinen Teil dazu beizutragen: Djamila mit köstlichem Essen, das sie liebevoll vorbereitet hatte, Pilar mit Eimern voll heißem Wasser, das sie unermüdlich herbeigeschleppt hatte, damit die Heimgekehrten sich vom Schmutz und Ekel der Verließe reinigen konnten. Miguel, indem er zur Ablenkung der kleinen Runde von der wilden Schönheit der Alpujarras erzählt hatte. Sogar Antonio, Saida und Nuri, die frisch gesäubert nach und nach dazustießen, hatte er mit seinen begeisterten Schilderungen der unberührten Bergtäler in Bann ziehen können, jedenfalls so lange, bis die Dämmerung angebrochen war.
Doch plötzlich sprang Nuri erregt auf.
»Wir sitzen hier, essen, trinken und schwätzen, als wäre nichts geschehen – während sie im Kerker frieren und leiden!«, rief sie. »Wir müssen Papa und Lucia befreien. Er wird es vielleicht nicht mehr lange aushalten mit seiner zerquetschten Hand. Er braucht einen Hakim*. Jemand, der sich um ihn kümmert und die Wunde versorgt. Und ich weiß ganz genau, wie sehr meine Freundin sich im Dunklen fürchtet!«
»Aber was du da vorschlägst, ist ganz und gar unmög lich!« Antonios Stimme war rau vor Sorge. »Ihr habt doch die Bewaffneten vor den elenden Löchern gesehen, in die man uns gesteckt hatte. Nicht anders werden sie mein armes Kind und meinen so übel gefolterten Freund bewachen.«
»Man bräuchte eiserne Waffen.« Pilar schien zu überlegen. »Und tapfere Männer, die bereit wären, alles auf eine Karte zu setzen.« Ihr Blick bekam etwas Wildes. »Mir kommt da nur einer in den Sinn, der dazu fähig wäre …«
»Rashid!« Djamila, Saida und Nuri hatten es wie aus einem Mund gerufen.
»Wo steckt er überhaupt?«, sagte Miguel. »Er muss doch wissen wollen, wie der Prozess heute ausgegangen ist.«
»Vielleicht hat er ja noch Dringlicheres zu tun …« Djamilas Stimme war ein Wispern.
»Was soll das heißen?«, fuhr Pilar sie an. »Rede!«
»Alle sagen, dass heute Nacht etwas Schreckliches geschehen wird.«
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