Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Nacht Von Lissabon

Die Nacht Von Lissabon

Titel: Die Nacht Von Lissabon Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Maria Remarque
Vom Netzwerk:
ihren Rock an. Er war weit und hellblau, mit weißen Blumen, und sie warf ihn um sich herum und knöpfte ihn zu, als gürte sie sich zu einem Gefecht. ›Ich liebe dich‹, sagte sie verzweifelt. ›Ich liebe dich viel mehr, als du jemals wissen kannst. Vergiß das nicht! Nie!‹

    Sie sagte es fast jedesmal, bevor sie sich von mir trennte. Es war die Zeit, als wir das Freiwild aller waren, sowohl der französischen Gendarmen, die aus einem wildgewordenen Ordnungssinn nach uns fahndeten, als auch der Gestapo, die in die Lager einzudringen versuchte, obschon es hieß, daß ein Abkommen mit der Regierung Pétain bestehe, das dies untersagte. Man wußte nie, wer einen schnappen würde, und jeder Abschied am Morgen war immer der letzte.
      Helen brachte mir Brot und Obst und manchmal ein Stück Wurst oder Käse. Ich traute mich nicht hinunter in das nächste Städtchen, um dort zu wohnen. Ich richtete mich im Walde ein und lebte in dem Rest eines alten, zerstörten Klosters, das ich ein Stück entfernt entdeckte. Tagsüber schlief ich dort, oder ich las, was Helen mir brachte, und beobachtete die Straße von einem Gebüsch aus, in dem ich nicht gesehen werden konnte. Helen brachte mir auch die Nachrichten und die Gerüchte: daß die Deutschen näher und näher rückten und sich nicht um ihre Verträge kümmerten.
    Es war trotzdem ein fast panisches Leben. Die Furcht kam ab und zu bitter wie Magensaft hoch; aber die Gewohnheit, nur der Stunde zu leben, siegte immer wieder. Wir hatten gutes Wetter, und der Himmel war nachts voll mit Sternen. Helen hatte eine Zeltplane besorgt, auf der wir unter trockenem Laub in dem zerstörten Klostergang lagen und auf die Geräusche der Nacht horchten. ›Wie kommt es, daß du so fortkannst?‹ fragte ich sie einmal. ›Und so oft?‹
      ›Ich habe eine Vertrauensstelle und etwas Protektion‹, erwiderte sie nach einer Weile. ›Du hast ja gesehen - ich bin auch manchmal im Dorf.‹
    ›Kannst du deshalb das Essen für mich bekommen?‹
      ›Ich bekomme es von der Kantine. Wir dürfen dort etwas kaufen, wenn wir Geld haben und solange es etwas gibt.‹
      ›Hast du keine Angst, daß jemand dich hier sehen könnte oder dich verraten würde?‹
      Sie lächelte. ›Nur für dich. Nicht für mich. Was kann mir passieren? Ich bin ja schon im Gefängnis.‹
    Am nächsten Abend kam sie nicht. Die Klagemauer löste sich auf, ich schlich heran, die Baracken lagen schwarz im schwachen Licht, ich wartete, aber sie kam nicht. Ich hörte die Nacht durch die Frauen, die zur Toilettenbaracke wanderten, ich hörte Seufzen und Stöhnen, und plötzlich sah ich die abgeschirmten Lichter von Automobilen auf der Straße. Tagsüber blieb ich im Walde. Ich war unruhig; irgend etwas mußte passiert sein. Eine Zeitlang dachte ich an das, was ich im Lager gehört hatte, und in einer sonderbar umgekehrten Weise wurde es mir zum Trost. Alles war besser, als daß Helen krank, abtransportiert oder tot war. Diese drei Möglichkeiten lagen so dicht beieinander, daß alle dasselbe bedeuteten. Und unser Leben war so ausweglos, daß es jetzt nur auf eines ankam: sich nicht zu verlieren, und irgendwann zu versuchen, aus dem Wirbel in eine stille Bucht zu flüchten. Vielleicht konnten wir dann noch einmal alles vergessen.
      Man kann es nicht«, sagte Schwarz. »Nicht mit aller Liebe, allem Mitleid, aller Güte, aller Zärtlichkeit. Ich wußte das, und es war mir gleich, ich lag im Walde und starrte auf die schwebenden Leichen der bunten Blätter, die sich von den Zweigen lösten, und dachte nur: Laß sie leben! Laß sie leben, Gott, und ich will sie nie nach etwas fragen. Das Leben eines Menschen ist so viel größer als die Verstrickungen, in die er gerät, laß sie leben, nur leben, und wenn es ohne mich sein muß, so laß sie leben ohne mich, aber laß sie leben!
      Helen kam auch nicht in der folgenden Nacht. Dafür sah ich abends wieder zwei Automobile. Sie kamen die Straße zum Lager herauf. Ich schlich in weitem Bogen herum und erkannte Uniformen. Ich konnte nicht sehen, ob es SS- oder Wehrmachts-Uniformen waren, aber es mußten deutsche sein. Ich verbrachte eine entsetzliche Nacht. Die Wagen waren gegen neun Uhr gekommen und fuhren erst nach ein Uhr wieder ab. Die Tatsache, daß sie nachts gekommen waren, ließ es fast zur Gewißheit werden, daß es Gestapo war. Als sie abfuhren, konnte ich nicht erkennen, ob Leute aus dem Lager mitgenommen wurden. Ich irrte - ich irrte im buchstäblichen Sinne

Weitere Kostenlose Bücher