Die Nacht von Shyness
ich jünger war, habe ich mir oft vorgestellt, wie es wäre, wenn ich andere Eltern hätte. Es musste ein Fehler sein, dass ich diese Eltern hatte. Ich war überhaupt nicht so, wie sie mich haben wollten. Gram auch nicht, aber ich glaube, ihm hat es nicht so viel ausgemacht.
Wildgirl soll wissen, dass zwei Elternteile nicht unbedingt besser sind als eines.
»Meine Eltern gehörten zu den Ersten, die Shyness verlassen haben, als es schwierig wurde. Mein Vater ist nur auf Geld und Bequemlichkeit aus. Er will den ganzen Dreck und Lärm dieser Welt aus seinem Haus raushalten. Er sagt, wo es langgeht, aber im Grunde ist er ein Weichei. Er macht nie einen Finger krumm, außer um Mails zu schreiben.« Ich nehme eine Bodybuilder-Pose ein. »Sieht so aus, als ob Mum heimlich mit den Wölfen geheult hätte.«
Wildgirl lächelt. Sie versteht, warum ich ihr das erzähle. Dann packt sie mich, dreht mich herum und zeigt auf den gespenstischen Träumer, der durch die Dunkelheit schwebt. »Siehst du den Typ? Garantiert ein halber Zombie.«
Jetzt sind wir fast bei Lupes Wagen. In diesem Abschnitt der Saturnalia Avenue gibt es überhaupt keine Bäume mehr. Wahrscheinlich haben die Kidds sie für eins ihrer Lagerfeuer benutzt.
»Kidds greifen an«, sagt Wildgirl, als könnte sie meine Gedanken lesen.
»Was?«, frage ich erschrocken.
Sie zeigt auf ein Plakat, das an die Seitenwand einer alten Milchbar geklebt ist. Das Plakat ist frisch und leuchtend im Vergleich zu der pockennarbigen Backsteinmauer darunter. Doktor Gregory ist für euch da , steht am unteren Rand. Über dem Werbespruch lächelt uns Doktor Gregorys gebräuntes Gesicht entgegen. Er hat verdächtig weiße Zähne.
Doktor Gregory ist vor allem für sein Geld da, wenn ihr mich fragt.
Jemand hat drei Buchstaben über Doktor Gregorys Gesicht gesprüht. Affenschrift, wacklig und unregelmäßig.
»K. G. A. Genau wie das Graffiti bei der Bowlingbahn. Kidds greifen an.«
Sie ist pfiffiger, als ich dachte. Oder weniger betrunken. In welchem Fall mich ihre Ukulele-Nummer noch mehr beeindruckt.
Wildgirl tritt näher an das Plakat heran. »Wer sind die Kidds?«
Bevor ich antworten kann, fällt ein kleines dunkles Etwas vom Himmel und landet auf Wildgirls Kopf. Lange Fellfinger fassen ihr an die Augen. Immerhin schreit Wildgirl nicht, aber sie schlägt um sich, während die Ukulele auf ihrem Rücken hüpft. Das Tier lässt von ihren Haaren ab, fällt zu Boden und flitzt davon. Ich eile Wildgirl zu Hilfe, aber sie schubst mich weg und deutet hinter mich.
Ich drehe mich um und da sind sie – die Kidds.
Fünf haben sich in einem Halbkreis um uns herum aufgebaut, die Räder haben sie hinter sich auf den Boden geschmissen. Hätte ich mich mehr auf die Umgebung konzentriert und nicht so sehr darauf, Wildgirl wieder zum Lächeln zu bringen, hätte ich die Räder lange vorher kommen hören. Den Größten erkenne ich auf den ersten Blick, ein Junge, den sie den Gnom nennen. Der Gnom ist schmächtig, er hat strähnige blonde Haare und seine Hautfarbe erinnert an rohen Teig. Rechts und links von ihm stehen zwei Jungs und zwei Mädchen in unterschiedlichem Alter. Ein Mädchen hat eine Hand in der Tasche, was auf ein Messer schließen lässt. Sie alle haben sich Polizeiabsperrband wie Schweißbänder um den Kopf gewickelt.
Der Gnom schubst den Kleinsten nach vorn. Er kann nicht älter als sieben sein. Auf seinem zu großen Basketball-Shirt sind Sabberspuren. »Sag’s ihnen, Baby.«
»Her mit der Tasche!«, ruft Baby mit schriller Stimme. »Du hast was dabei. Das wissen wir.«
Wildgirl lacht. Ich kann es ihr nicht verdenken. Baby geht ihr gerade mal bis zur Taille.
Das Koboldäffchen sitzt jetzt auf Babys Schulter, lecktsich die Pfoten und kreischt leise. Man sieht seine löchrigen Zähne.
Ich hab nicht aufgepasst. Ich hätte Wildgirl fragen sollen, ob sie was dabei hat. So eine große Tasche, da muss was drin sein.
»Lauf zurück zu deiner Mami, Kleiner.«
»Affe macht kein Fehler«, sagt Baby zornig und verzieht das Gesicht. Entweder kriegt er gleich einen Wutanfall oder er fängt an zu heulen. Das Haarband hängt ihm in die Augen. Hilfe suchend schaut er zum Gnom.
»Hör mal, du colafarbene Stadttussi.« Der Gnom spricht betont langsam, aber man sieht sofort, dass er total stoned ist. »Gib die Tasche her. Und ein bisschen Respekt für Baby, bitte.«
Die Kidds sind unruhig und zappelig. Ich überlege, wer dem Gnom wohl zu Hilfe käme, wenn ich mich auf ihn stürzen und
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