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Die Nacht von Shyness

Die Nacht von Shyness

Titel: Die Nacht von Shyness Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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macht sich keiner mehr die Mühe, Straßen, Ampeln oder Verkehrsschilder zu reparieren. Ich schiebe mich durch die Dunkelheit, als würde ich durch tiefes Wasser waten. Selbst Wildgirl ist still.
    In dieser Gegend leben hauptsächlich Träumer. Sie haben keine Angst, in der Nähe von Orphanville zu wohnen; die Kidds haben mit ihnen nichts zu schaffen. Die Häuser der Träumer sind Scherenschnitte mit Balkonen, Spitze und verzierten Dächern. Würde man die Mitternachtssilhouetten anstupsen, würden sie alle umfallen.
    Thom und ich sind mal in ein Träumerhaus eingebrochen. Wir suchten uns ein kaputtes Fenster und legten unsere T-Shirts über die zerbrochenen Scheiben, sodass wir hineinklettern konnten. Ohne ein Wort zusagen, gingen wir durch das ganze Haus. Es gab keine Möbel, kein Licht, weder Spiegel noch Teppiche. Nur nackte Dielen und Spinnweben, ein hölzernes Treppenhaus, das nach oben führte, und überall Staub. Im ersten Stock stand in einem der kleinsten Zimmer ein Bett. Ein paar Sofakissen mit zerknüllten Laken darüber, als hätte sich jemand eilig davongemacht.
    Ich komme nur aus einem Grund in diesen Stadtteil, und zwar um Lupe zu besuchen. Alle kennen Lupe und ihren Wagen. Man geht zu ihr, weil sie die besten Döner von Shyness hat. Und weil sie Fragen beantworten kann. Schon bevor die Dunkelheit kam, haben meine Eltern mich davor gewarnt, mit ihr zu sprechen. Doch nach Grams Tod war der Drang zu stark. Lupe erzählte mir das, was ich erfahren wollte. Es spielte für mich keine Rolle, ob es die Wahrheit war oder nicht. Sie sagte mir, Gram sei überhaupt nicht weit weg, bloß auf der anderen Seite eines Vorhangs. Das war vor der Dunkelheit oder bevor wir merkten, dass sie kam. Manchmal denke ich, dass die Sonne zur selben Zeit ausgefallen ist, wie Gram von uns gegangen ist.
    Ich beschleunige meine Schritte. Ich kann es kaum erwarten, Lupes Wagen in der Nacht leuchten zu sehen wie ein Karussell. Lupe steht ganz oben auf der Liste der Sachen, die man in Shyness gesehen haben muss. Wildgirl wird sie mögen, das hab ich im Gefühl. Und jetzt, wo sich einmal der Gedanke an Essen in meinen Kopf geschoben hat, komme ich nicht mehr davon los.
    »Guck mal«, flüstert Wildgirl und drückt sich ängstlich an mich. Es dauert einen Augenblick, ehe ich ihn entdecke.
    Etwa fünfzig Meter entfernt kommt ein Mann taumelnd die Straße entlang. Er zieht die Beine nach und schwankt mitten in einem Schritt; der typische Träumergang. Die Ärmel seines Pullovers hängen schlaff herunter, als hätte er keine Arme.
    »Ein Träumer«, erkläre ich. »Das ist eine Art Kult hier. Sie wollen nichts als schlafen und träumen. Am Anfang schlucken sie jede Menge Tabletten, damit sie länger schlafen und mehr träumen können. Nach einer Weile brauchen sie dann keine Medikamente mehr, sie können schlafen, solange sie wollen. Sie sind überzeugt, dass Träume die eigentliche Realität sind.«
    Der Träumer schwankt an uns vorbei, ohne uns wahrzunehmen, sein Blick ist auf irgendetwas am Horizont gerichtet. Er wirkt farblos, als wäre er zu oft in der Wäsche gewesen. Eine verlorene Seele. Wildgirl verrenkt sich den Hals, um ihn noch länger zu beobachten.
    »Man kann es ihnen nicht verdenken, oder? Im Traum kann man tun und lassen, was man will. Man kann sein, was man möchte. Im Schlaf kann alles passieren, alles kann behoben oder rückgängig gemacht werden.«
    Sie sagt das so, als hätte sie ihre Träume gezähmt. »Du müsstet mal Dreamer-Rock hören. Davon schlafe sogar ich ein.«
    Wildgirl geht immer noch nah an meiner Seite. Ich nutze die Gunst der Stunde, ihr den Arm um die Schulter zu legen.
    »Was hast du mit der Kreditkarte vor, jetzt, wo du weißt, dass sie funktioniert?«
    »Ich setz mich in ein Flugzeug und fliege ganz, ganz weit weg.«
    »Wohin?«
    »Hm, nach Indien, glaub ich. Vielleicht.«
    Über Indien weiß ich nur, dass es rappelvoll mit Milliarden von Menschen ist, die alle versuchen, ein bisschen Platz zu finden, und dass die Sonne mich in genau dreißig Sekunden verbrutzeln würde.
    »Hast du da Verwandte?«
    »Wieso?« Wildgirl wirkt auf einmal gereizt.
    »Weiß nicht. Die siehst aus, als ob du zur Hälfte woanders herkommst.« Mist. Jetzt blitzt sie mich wütend an. »Deine Haare … die sind so dunkel, und deine Haut …«
    Wildgirl taucht unter meinem Arm weg. »Frag doch einfach meine Mutter! Sie sagt, sie weiß es nicht. Aber ich glaube, sie verheimlicht mir was.«
    Ich hab den Augenblick zerstört.
    Als

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