Die Nacht von Shyness
aß meinen Döner und fühlte mich elend, weil ich zu feige war, etwas zu sagen.
Es war vielleicht mein fünfter Besuch, da fragte Lupe schließlich, während sie mir Kleingeld rausgab: »Willst du noch irgendwas anderes, mein Junge?«
Die Frage ließ mich erstarren. Was wollte ich? Ich wollte, dass alles wieder so war wie früher. Nein. Früher war zu lange her. Früher, als ich noch mit meinen Eltern sprach, als Gram noch nicht ausgezogen war und wir ihn noch zu sehen bekamen, als Gram und Ortie noch nicht getrennt waren. Früher, das war, als ich zehn war und wir alle zusammen im Haus wohnten, wie eine Familie. Früher war unmöglich.
Ich wusste wirklich nicht, was ich wollte. Ich stand da und machte den Mund auf und zu wie der dumme Junge, der ich ja auch war. Vielleicht wollte ich wissen, warum schlimme Sachen passieren. Oder wann es nicht mehr wehtun würde.
Am Ende brauchte ich gar nichts zu sagen. Lupe verschwand von ihrem Fenster und schob den Türriegel zurück. Ich setzte mich an ihren Tisch und streckte den Arm auf dem schlichten orangefarbenen Kunststoff aus. Damals war Lupes Wagen noch längst nicht so vollgestopft.
Sie las meinen Arm in Trance. Dabei sagte sie eine Menge, an manches kann ich mich nicht mehr erinnern. Ab und zu habe ich einen Flashback, dann fällt mir plötzlich etwas ein, was sie gemurmelt hat. Worte, die zunächst nichts bedeuteten und erst im Lauf der Jahre eine Bedeutung erhielten.
»Du musst aufpassen, dass du dich nicht abkapselst«, sagte sie. »Begib dich nicht zu weit in dein Inneres.«
Vielleicht ist es dafür zu spät. Sie meinte vermutlich: Wohne nicht allein in einem großen Haus, wo du durch die leeren Zimmer geisterst. Und sie meinte, sprich mit deinen Freunden über wichtige Dinge, anstatt die Zeit mit Trinken und Musikhören totzuschlagen.
Das war nicht alles. Sie behauptete, in meinem Innern wäre ein schwarzer Fleck, ein blinder Fleck. Sie sagte, es mache ihr Sorgen, dass ich Sachen in diesem Fleck verberge, Sachen, die eigentlich rausmüssten.
Lupe war es, die als Erste auf Gram zu sprechen kam.
»Dein Bruder ist gegangen, aber nicht weit. Er hat diese Welt verlassen, doch es gibt andere Orte in der Nähe. Er kann dich immer noch sehen. Er lächelt.«
Ich hätte fragen können: Warum hat er es getan? Wie konnte er mich verlassen? Wieso sollte er jetzt lächeln, wo er doch vorher so unglücklich war?
Ich glaube nicht an den Himmel, deshalb fällt es mir schwer, an die anderen Orte zu glauben, von denen Lupe spricht.
Aber vielleicht hat sie ja nicht den Himmel gemeint.Ich sitze auf dem Heck des Wagens, der Ersatzreifen dient mir als Kissen. Die Lichterkette um Lupes Vordach erhellt die Dunkelheit mehr, als man meinen könnte; das Licht bildet einen vollkommenen Kreis um den Wagen. Dahinter sind dunkle Flecken, wo die Zapfsäulen herausgerissen wurden und Löcher im Beton hinterlassen haben. Ich atme aus und versuche die schwere Wolke der Erinnerungen wegzublasen.
Damals war ich ein anderer.
Ich frage mich, was Lupe wohl gerade zu Wildgirl sagt.
In Lupes Wagen sagst du die Wahrheit, ob du willst oder nicht.
Das hätte ich Wildgirl erzählen sollen, bevor wir reingegangen sind.
11
Wildgirl und ich gehen über die Betonwüste der Saturnalia Avenue zurück. Wir lassen uns Zeit. Unsere Schritte hallen zwischen den Häusern nach. Bevor wir aufgebrochen sind, hat Lupe uns einen Schutz verpasst. Ich hab nicht gefragt, wie er funktioniert. Mit einem Kilo Zucker durch die Tore von Orphanville zu laufen, ist wahrscheinlich immer noch nicht angesagt. Aber es war eine großzügige Geste von Lupe, ich bin seitdem ein bisschen lockerer. Sie weiß immer, was ich brauche, auch wenn ich selbst keine Ahnung habe. »Viel Spaß«, hat sie gesagt, als wir den Wagen verließen. Dann hat sie in ernsterem Ton geflüstert: »Bleib in ihrer Nähe.«
Wildgirl ist für ihre Verhältnisse sehr still. Ich kenne sie noch nicht lange, aber ich weiß, dass sie das Herz auf der Zunge trägt. Es gefällt mir, dass sie immer sagt, was sie denkt. Aber jetzt gerade ist sie mit ihren Gedanken woanders. Ich werde sie nicht danach fragen, was Lupe ihr gesagt oder was sie Lupe erzählt hat. Was in Lupes Wagen passiert, ist privat. Ich dachte, es wäre eine gute Idee, mit Wildgirl dorthin zu gehen. Aber ich hätte mir denken können, dass Lupe sie überredet, sich den Arm lesen zu lassen. Lupe meint es gut, aber was sie macht, ist nicht gerade Small Talk.
Ich muss Wildgirl aus der
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