Die Nacht von Shyness
auf und ab. »Beides gleichzeitig.«
Hast du manchmal das Gefühl, dass du allein auf der Welt und für niemanden wichtig bist?
»O ja, andauernd«, stimme ich ein, allmählich kann ich mich auf die Sache einlassen. Das ist nicht besonders schwer. Wildgirls Begeisterung wirkt ansteckend.
Stiehlst du manchmal, ohne zu wissen, warum?
Wildgirl breitet die Arme aus und haut mir dabei fast eine runter. »Nur Herzen, Baby!«
Da kann ich ihr nicht widersprechen.
Doktor Gregory beugt sich mit seinem orangefarbenen Gesicht vor, sein Blick ist stechend. Dem geht richtig einer ab.
Hast du oft merkwürdige Gedanken, die dich verwirren?
»Ja«, antworte ich. »Ich fühle mich auf unnatürliche Weise zu Ziegen hingezogen.«
Wildgirl kichert.
Diese Antwort verstehe ich nicht. Bitte wiederhole deine Antwort klar und deutlich.
»Ja, Doktor«, sagt Wildgirl. »ZIEGENLIEBE.«
Doktor Gregory verzieht keine Miene. Sodomie fällt offenbar nicht in seinen Geschäftsbereich.
Hast du große Angst vor der Zukunft?
Das ist zu einfach.
»Ich hab große Angst vor Ihrer Jeans«, bringe ich heraus. Wildgirl muss so lachen, dass sie fast vom Stuhl kippt. Es ist eher ein Schnauben als ein Lachen und das Schärfste, was ich je gehört habe.
Vielen Dank für die Teilnahme an dem Test. Du kannst nun die Diagnose entnehmen.
Ein Zettel fällt in den Schacht.
Du hast eine Borderline-Persönlichkeitsstörung. Lasse dich umgehend in der Doktor Gregory Kurklinik behandeln. Für den Besuch der Klinik ist das Einverständnis deiner Eltern nicht notwendig. Die ist der erste Schritt in ein neues Leben!
Es folgt Klaviergeklimper, dann flötet eine weibliche Stimme: Doktor Gregory ist für euch daaaa!
»Wow«, sage ich. »Wir sind ja echt fertig, was?«
Ich überlege mir hunderttausend Möglichkeiten, wie ich Wildgirl hinhalten kann, damit wir noch eine Weile so in der engen Kabine bleiben können.
Sie dreht sich um und sieht mich an. »Ich war eine Zeit lang bei einem Therapeuten«, sagt sie so, wie man auch sagen könnte: Schöner Mond heute, was? »Meine Mutter hat darauf bestanden.«
Erst jetzt fällt mir diese sagenhafte Kette aus weißen Federn auf, die sie um den Hals trägt. Das bedeutet, dass ich nach unten sehe, während ich doch hochschauen sollte. Also schaue ich ihr ins Gesicht. »Wieso?«
»Och, weil ich keine Freunde hab und so.«
»Und wie war es?«
Ich finde es toll, dass Wildgirl mir so was einfach erzählt, geradeheraus, als wäre es kein großes Ding. Mum und Dad wollten nach Grams Tod auch, dass ich eine Therapie mache, aber ich habe mich geweigert. Wenn ich mal einen schlechten Tag hatte, war Lupe ja gleich um die Ecke.
»Es war ganz okay.« Sie nagt an der Unterlippe. »Aber es hat nichts genützt, jetzt ist alles schlimmer denn je.«
Ich betrachte ihr Gesicht in allen Einzelheiten. Auf ihrerWange ist eine verirrte Wimper, aber wenn ich die jetzt wegstreiche, ist das ja so was von abgeschmackt … Es kommt mir vor, als wollte sie noch mehr sagen, aber vielleicht liege ich falsch. Vielleicht bin ich mit dem Reden dran.
»Meinst du in der Schule?«, frage ich schließlich. »Ist es in der Schule schlimmer geworden? Oder zu Hause?«
Wildgirl scheint mich nicht zu hören. »Deine Zähne«, sagt sie mit einem ulkigen kleinen Lächeln, »sind so groß wie Grabsteine.« Aus ihrem Mund klingt es nicht böse. Sie will damit nur sagen: Mehr erfährst du vorerst nicht von mir.
Die Stille ist so gähnend, dass ich mir unweigerlich vorstelle, wie es wäre, mich vorzubeugen und sie zu küssen. Aber wenn ich die Zeichen falsch deute, zerstöre ich womöglich den besten Lauf, den wir heute Nacht hatten. Seit mindestens zehn Minuten hab ich nichts Bescheuertes gesagt oder getan.
Die Entscheidung wird mir abgenommen, als mein Handy laut piepst. Wildgirl lacht. Ich nehme das Telefon aus der Hemdtasche. Es ist Thom. Er hat es hingekriegt. Sie sind im Little Death.
Wir sind drin.
zwölf
Ich bin so lässig wie nur was. Das ist meine übliche Masche: wenn ich meine gefälschten Einwilligungen zu Schulausflügen abgebe, wenn ich drei Stunden zu spät nach Hause komme, wenn ich bei der Arbeit im Internet rumsurfe, statt Kunden anzurufen, und wenn ich mich für älter ausgebe, als ich bin.
Auch heute in der Schule hab ich auf lässig gemacht, hab so getan, als wär es mir egal, während ich mich fühlte, als hätten sie mir die Eingeweide rausgesaugt.
Ich lehne mich auf die Theke – ein großer Fehler, denn die Bieruntersetzer in
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