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Die Nacht von Shyness

Die Nacht von Shyness

Titel: Die Nacht von Shyness Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Aufbau
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richtigen Worte, also nehme ich meinen Döner in die Hand und beiße ab. Er schmeckt köstlich –genau das richtige Verhältnis von salzig, knusprig und knoblauchig. Das Brot zerfällt in meinen Händen, also nehme ich die Stücke einfach vom Teller und schiebe sie mir rein. Ich bin so unglaublich hungrig! Während des Essens reden wir nicht, und Lupe hat anscheinend ihre Freude daran, uns zuzuschauen.
    Mit gefülltem Bauch fühle ich mich wieder wie ein Mensch. Kaum habe ich aufgegessen, die Finger abgeleckt und einen zufriedenen Seufzer ausgestoßen, setzt Lupe sich abrupt auf, sodass die roten Perlen um ihren Hals tanzen. »Deinen Arm, Schätzchen.« Wieder nimmt sie meine Hand in ihre und streckt meinen Arm, sodass die blasse Haut meines Unterarms zu sehen ist. »Ich lese aus der Haut«, erklärt sie. »So wie Handlesen, nur dass ich deine Adern lese.«
    »Lupe«, stöhnt Wolfboy und schiebt seinen Teller von sich. Seine Wangen haben jetzt Farbe und in seinen Augen ist wieder Leben. Er sieht mich an. »Du musst nicht, wenn du nicht willst.«
    Meine Adern sind kaum zu erkennen.
    »Hast du es mal machen lassen?«, frage ich. Er nickt.
    Aus der Nähe ist Lupes Gesicht von puderbedeckten Falten durchzogen. Ich habe mir noch nie aus der Hand lesen, ein Horoskop erstellen lassen oder einen Hellseher befragt. Man kann die Leute ja wohl kaum bitten, nur das Gute zu erzählen und das Schlechte wegzulassen. Und ich muss daran glauben, dass mir bald etwas Gutes widerfährt als Ausgleich für den ganzen Scheiß in der letzten Zeit.
    »Du brauchst keine Angst zu haben«, sagt Lupe. »Ich sehe bei dir schon viel Leben.«
    »Klar«, sage ich. Ich muss ja nicht glauben, was sie mir erzählt. Hoffentlich sagt sie mir, dass ich mich auf eine lange Reise begebe und alle Probleme hinter mir lasse. Und wenn sie das nicht sagt, bin ich stark genug, um trotzdem daran zu glauben.
    Lupe tippt überall mit den Fingerspitzen auf meinen Arm.
    Wolfboy rutscht aus der Bank und steht auf. »Ich warte draußen.«
    Ich weiß nicht, ob er es gut findet oder nicht, dass ich mir den Arm lesen lasse.
    »Kann dir da nichts passieren?«, frage ich. »Vielleicht bleibst du lieber hier. Mir macht es nichts aus.«
    »Rund um den Wagen ist ein Kreis«, erklärt Guadalupe. »Und ohne meine Erlaubnis darf niemand den Kreis betreten.«
    Wolfboy dreht sich um, bevor er geht, treffen sich unsere Blicke. Als er rausgeht, neigt sich der Wagen. Die Tür fällt scheppernd hinter ihm zu.
    Ich lächele Lupe nervös an und rutsche auf der Bank herum. Ich spüre das vertraute Gewicht meiner Handtasche auf den Füßen.
    Guadalupes Züge werden weich, nur ihr Blick bleibt scharf. Ich beobachte sie, während sie Muster auf meinen Arm zeichnet. Es ist entspannend, in dieser rosa Kapsel zu sitzen, während mein Arm gestreichelt wird, als würde eine winzige Eiskunstläuferin darübergleiten. Ich merke, wie mein Atem langsam und mein Kopf leer wird.

10
    Manche Veränderungen kommen schleichend, andere so plötzlich, dass es dich zerreißt und du nicht mehr weißt, wer du bist. Als ich Lupe das erste Mal besucht hab, hatte es mich gerade zerrissen. Ich war so voller Angst, dass ich dachte, meine Beine würden mich nicht bis zu ihr tragen.
    Ich war vierzehn und keiner wusste, dass die Dunkelheit unterwegs war. Auf der Saturnalia Avenue fuhren noch Autos und Orphanville war nur eine verlassene Wohnsiedlung.
    Damals war die Tankstelle nach wie vor geöffnet. Um den Außenbereich wehten Fahnen, in der großen Tiefkühltruhe vor dem Eingang waren Eisbeutel und man konnte Gasflaschen ausleihen. Lupes Wagen war frisch gestrichen.
    Ich hatte all die Geschichten über Lupe in der Schule gehört: dass sie eine Hexe ist, dass sie in die Zukunft sehen kann, dass sie Leute, die einem etwas angetan haben, verfluchen und mit den Toten sprechen kann.
    Meine Eltern hatten mich vor ihr gewarnt. Ich glaube, sie fürchteten sich vor ihr, weil sie anders war. Meine Mutter findet dicke Frauen abstoßend. Sie sagt, dass sie sich gehen lassen. Meine Mutter kann nichts gehen lassen.
    Jetzt kann ich mich nur noch schwach daran erinnern. Sich erinnern bedeutet auch, dass man sich selbst so sieht, wie man vor mehreren Jahren war. Und das ist fast unmöglich. Ich war spindeldürr und hatte fast keinen Bartwuchs.
    Wochenlang ging ich zu Lupes Wagen, ohne groß mit ihr zu sprechen. Ich ging voller guter Vorsätze hin, doch wenn ich da war, versteinerte ich. Am Ende saß ich immer unter ihrem Vordach,

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