Die Nacht von Shyness
weghuschen, sich am Fluss, in den Straßen und Gärten verteilen. Ich sauge den Blick auf, bis mir schwindelig wird und ich, erfüllt von diesem Wunder, davonsegeln könnte. Dieses Gefühl festhalten zu wollen, wäre so, als wollte man Wasser in der Mulde der Hände auf bewahren. Man kann es nur so lange wie möglich genießen.
»Ich hab keine Angst.« Ohne es zu wollen, spreche ich die Worte laut aus. Wolfboy steht immer noch dort, wo ich seine Hand losgelassen habe. »Komm her und guck.«
»Ich hab’s nicht so mit Höhen.«
»Ich auch nicht, aber von hier oben sieht es gar nicht echt aus.«
Wir stehen nebeneinander, sein Arm an meinem.
»Was glaubst du, was da unten ist?«
, frage ich.
»Irgendwo sind Paul und Thom, trinken und quatschen dummes Zeug. Leute prügeln sich, Kidds machen Ärger. Lupe schläft an ihrem Tisch.« Er schweigt einige Sekunden, dann stößt er einen langsamen Pfiff aus.
»Kein Heulen?«
Wenn ich heulen könnte, wäre mir hier oben auf diesem Dach danach.
»Damit würden wir uns verraten, meinst du nicht?«
Stimmt. Ein schlagendes Argument.
»Von hier aus kannst du Panwood sehen.« Er zeigt dorthin, wo die Lichter in ordentlichen Reihen angeordnet sind. Weiter hinten werden sie dichter.
»Und andere Stadtteile.« Ich zeige auf den Wolkenkratzer mit der golden ummantelten Spitze. »Der Goldfinger.«
»So heißt der?«
»So nenne ich ihn. Er hat bestimmt irgendeinen offiziellen Namen. Ich sehe ihn immer auf dem Schulweg. Wenn die Sonne richtig steht, gehen manchmal Lichtstrahlen von ihm aus. Ich hab immer gedacht, die Leute, die ihn gebaut haben, zeigen insgeheim der ganzen Stadt den Stinkefinger.«
»Ich hab so lange keinen Gedanken daran verschwendet, was außerhalb von Shyness los ist.«
»Mein Leben würdest du stinklangweilig finden.«
»Glaub ich nicht. Ich hab das Gefühl, dass du dein Leben nicht auf gewöhnliche Weise lebst. Als wäre es für dich sogar ein Abenteuer, am Schreibtisch zu sitzen und Hausaufgaben zu machen.«
»Ich hab keinen Schreibtisch. Noch nicht mal ein Zimmer. Ich mache meine Hausaufgaben am Küchentisch.«
»Du weißt schon, was ich meine.«
Ich lächele ihn an. In seiner Stimme liegt Bewunderung. Ich weiß nicht, ob ich sie verdient habe. Sonst bekomme ich immer zu hören, ich wäre zu laut, zu streitlustig, zu eigensinnig, zu impulsiv, zu taktlos, zu gesprächig, zu alles Mögliche. Deshalb nehme ich alle Komplimente, die ich kriegen kann.
»Du bist anders, stimmt’s?«
Er lacht kurz und hart. »Fällt dir das jetzt erst auf?«
»Ich meine, du bist anders als bei unserer ersten Begegnung. Als ich dich das erste Mal im Pub gesehen hab, da dachte ich, ich weiß auch nicht, du bist irgend so ein Möchtegern-Rockstar, absolut obercool. Ich wollte nicht von dir beeindruckt sein, aber ich war’s doch. Aber so bist du gar nicht. Cool, meine ich.«
»Tja … danke.«
»Du bist anders als die Jungs bei uns. Ich glaube, so jemanden wie dich hab ich noch nie kennengelernt.«
An dieser Stelle müsste ich etwas Konkretes sagen, aber ich will nicht, dass es abgedroschen klingt. Und dann bin ich selbst überrascht, was als Nächstes aus meinem Mund kommt. »Ich bin froh, dass du mir das von deinem Bruder erzählt hast.«
Wolfboy sieht mich verwirrt an und ich kann ihm nicht verdenken, dass er den Zusammenhang nicht versteht. Ich wollte überhaupt nicht wieder von seinem Bruder anfangen.
»Ich kann mir gar nicht richtig vorstellen, wie das sein muss«, füge ich hinzu, als ob dadurch irgendetwas deutlicher würde.
»Ich würde dir auch nicht wünschen, dass du dir das vorstellen kannst.«
»Der einzige Mensch, den ich je verloren hab, war meine Oma.«
Obwohl ich wusste, dass sie mir fehlen würde, ging es mir nicht so schlecht, als Oma gestorben ist. Sie war bereit zu gehen. Das hat sie selbst gesagt. Oma war das Bindeglied zwischen meiner Mutter und mir. Nach ihrem Tod waren wir voneinander getrennt und schwebten durch die Wohnung wie Astronauten im Weltraum.
»Du kennst doch Ortolan«, sagt Wolfboy, »die Frau, mit der wir im Raven’s Wing geredet haben? Ich weiß nicht, ob sie es dir erzählt hat, aber sie ist, ich meine war …«
»Sie war die Freundin deines Bruders.« Jetzt, da ichweiß, dass Gram tot ist, verstehe ich, warum Ortolan Wolfboy so angeschaut hat und warum sie zart wie ein Vogel und gleichzeitig beinhart wirkte.
»Was hat sie dir sonst noch erzählt?«
»Nicht so viel«, sage ich. Ich brauche ja nicht zu erwähnen, was
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