Die Nacht von Shyness
die Lippe. »Klingt so, als hätte Gordie gekriegt, was er verdient hat«, sage ich mit Piepsstimme.
Ich glaube, ich hab zu dick aufgetragen, aber Kapuze grinst und entblößt dabei nichts als fleckiges rosa Zahnfleisch. Kein Wunder, dass er so spricht, als hätte er den Mund voller Zuckerwatte. Er lässt die zuckende Hand sinken und kämpft eine Weile mit dem Fernseher; er hat alle Mühe, ihn nicht fallen zu lassen.
»Aber bin noch nicht mit ihm fertig, weißte?«
11.
Der Aufzug ruckelt und Kapuze fasst den Fernseher anders an.
»Was is mit dem« – er zeigt mit dem Fernseher – »was is mit dem Wau-wau-wau?«
Wolfboy wird begeistert sein.
»Ach, der?«
Ich wickele eine Haarsträhne um den Finger und mache einen auf ahnungslos. »Weiß nicht. Der Boss sagt, ich soll mich um ihn kümmern. Ist ein Söldner oder so.«
Die Tür geht auf. Kapuze nickt wissend. Als seine Kapuzeherunterrutscht, sehe ich kurz seine glänzenden Augen. »Is in letzter Zeit öfter so was los. Die haben heut Nacht einen Namenlosen geschnappt, könnt also sein, dass da was abgeht. Hoffentlich.«
Namenlos. Das hat der Barkeeper im Little Death gesagt, als ich ihm die Karte gegeben habe.
Im elften Stock riecht es nach Rauch. Rote Lichter blinken. Als Kapuze über die Schwelle geht, stolpert er und landet auf den Knien. Der Fernseher fällt ihm aus den Händen und knallt auf den Boden. Eine schwarze Plastikscherbe fliegt in die Dunkelheit. Wolfboy stürzt zu Kapuze und will helfen, doch der rollt sich auf die Seite und macht sich ganz klein.
Intuitiv strecke ich den Arm aus, sodass Wolfboy nicht aus dem Aufzug raus kann. Ich erhasche gerade noch eine zweite Gestalt, die im Flur wartet, bevor sich die Tür des Aufzugs mit einem Knall schließt.
dreiundzwanzig
Mein Herzschlag hat sich noch nicht beruhigt, als uns der Aufzug ganz oben in einem Windfang ausspuckt. Ich renne förmlich durch das schmale Treppenhaus bis zum Dach. An einer krankenhausgrünen Tür endet die Treppe.
Alles ist genau dort, wo es sein soll.
»Sachte«, warnt Wolfboy mich, als ich die Klinke herunterdrücke. Ich mache die Tür einen Spalt weit auf und spähe in die eisige Nacht.
Auf dem Dach ist niemand. Ich fasse Wolfboy an der Hand, eher um mich selbst zu beruhigen als ihn.
Das Dach ist ein flaches Rechteck aus Beton, vielleicht zwanzig mal dreißig Meter. Es ist umgeben von einer hüfthohen Mauer. In den Plexus-Bauten gibt es immer noch einige, die sich dadurch nicht abhalten lassen zu springen; ich frage mich, ob sie in Orphanville dasselbe Problem haben.
Meine Nasenflügel zucken von dem beißenden Geruch nach verbranntem Holz. Hier oben scheint sich ein Pyromane ausgetobt zu haben. Überall auf dem Dach liegt verkohltes Holz herum; der Beton ist übersät mit Brandflecken und Kohlestaub. In der Mitte ein Haufen verbrannter Möbel. Vielleicht bilde ich es mir nur ein, aber der Beton fühlt sich warm unter meinen Füßen an.
Theoretisch dürfen alle Bewohner der Plexus-Bauten das Dach ihres Gebäudes nutzen, doch in Wirklichkeit gibt es in jedem Haus eine kleine Gruppe, die es für sich beansprucht. Unseres wird von einer Horde Karten spielender, Gin trinkender Omas in Beschlag genommen, die mich nicht weiter stören. Ich könnte da hochgehen, wenn ich wollte, aber ich habe es seit Jahren nicht gemacht.
Ich lasse Wolfboys Hand los und gehe bis zum Rand des Dachs, um diesen seltsamen dunklen Vorort einmal von oben zu betrachten. Außerdem muss ich mal einen Moment allein sein. Ich lehne mich an die Betonmauer und atme in tiefen Zügen die frische Luft ein. Meine Atemwolken werden vom Wind fortgetragen. Ich schaue hinab auf die Bäume, die Orphanville wie ein Kragen umgeben, auf den gewundenen Fluss, dann hebe ich den Blick zu dem Samthimmel. Die Stadt unter mir könnte leicht das Spiegelbild des Himmels sein: endloses Schwarz mit Lichtern wie Nadelstiche.
Da ist es.
Das vertraute Gefühl, als könnte ein Sonnenstrahl aus meiner Brust platzen, als könnte eine Welle mich überspülen und sauber waschen. Wenn ich früher vom Dach unseres Hochhauses blickte und meine Welt von oben sah, dann kribbelte es immer in meinem ganzen Körper. Nicht wegen dem, was direkt unter mir war, sondern wegen dem, was außerhalb meines Blickfeldes lag. Die Welt. Eine ganze Welt da draußen, größer und besser, als ich es mir vorstellen konnte.
Hier, auf diesem Dach, ist die Welt um mich herum fremd. Ich stelle mir die Koboldäffchen vor, wie sie inder Dunkelheit
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