Die Nacht von Shyness
muss zu Nummer vier führen. Die Tunnel in den Plexus-Bauten sind schachbrettartig angelegt. Es gibt keinen Grund, weshalb es bei diesen hier anders sein sollte.«
Als wir in den linken Tunnel einbiegen, muss ich mich ducken. Die Rohre sind alt und verdreckt. Sie verströmen fusselige Hitze und ächzen wie schnarchende Babys. Hin und wieder wird die Monotonie durch ein Rad, einen Hebel oder ein Warnschild unterbrochen. Unsere Schritte knirschen auf dem trockenen Betonboden.
Ich rücke den Rucksack so zurecht, dass sich das Gewicht gleichmäßig auf meinen Schultern verteilt.»Ich frage mich, ob die Tunnel hier wohl mit den alten U-Bahn-Tunneln beim Little Death verbunden sind.«
»Kann schon sein.«
»Wir sollten Markierungen hinterlassen für den Fall, dass wir uns verirren und umkehren müssen.«
Darauf sagt sie nichts. Die Akustik hier drin ist gut. Es kommt mir so vor, als würde ich flüstern, aber meine Stimme ist laut. Wenn man es schaffen würde, eine Stromleitung anzuzapfen, könnte man hier unten super Aufnahmen machen. Wir kommen an einem Einstiegsloch vorbei, unter dem eine Metallleiter an der Wand befestigt ist.
Hoffentlich ist das Ganze nicht bloß Zeitverschwendung. Wenigstens ist das hier unten ein gutes Versteck und Wildgirl scheint sich zurechtzufinden. Vielleicht sind viele städtische Gebäude aus Kostengründen nach dem gleichen Plan gebaut.
»Gefällt es dir da, wo du wohnst?«
, frage ich.
»Es ist ein Loch«, sagt Wildgirl, ohne sich umzudrehen. »Unsere Wohnung ist winzig, ungefähr so groß wie dein Wohnzimmer. Um uns herum wohnen zig andere Leute in exakt der gleichen Wohnung. Alle übereinandergestapelt. Wir haben ein eigenes Bad und eine Küche, aber den Waschraum, die Mülltonnen und den Parkplatz müssen wir uns mit den anderen teilen. Ich kann es kaum erwarten, da rauszukommen.«
Ach so. Sie geht schneller, und ich muss mich beeilen, mit ihr Schritt zu halten. Ihre Stimme klingt merkwürdig, vielleicht wegen der Akustik hier.
»Und deine Schule?«
, frage ich.
»Ich hab ein Stipendium für eine Privatschule. Dasbegabte Unterschichtenkind, wie es in jeder Schule eins gibt. Die Mädchen in meiner Schule haben mindestens zehn Jeans pro Nase und dreimal so viele Paar Schuhe, während ich immer noch in derselben Uniform rumlaufe wie am Anfang. Sie denken, ich trage mein Schulkleid gern kurz.«
Sie lacht, aber es ist kein leichtes Lachen. Sie muss mich hassen, seit sie mein Haus gesehen hat. Zwar halte ich es nicht so in Ordnung wie Mum früher, aber trotzdem. Bestimmt sieht man, dass wir Geld haben – oder besser hatten. Aber so was sollte keine Rolle spielen, oder? Muss ich mich jetzt dafür entschuldigen, dass meine Eltern wohlhabend sind?
Da hallt ein dumpfer Schlag durch den Tunnel. Ich zucke zusammen und knalle vor Schreck gegen ein Rohr. Ein lautes Zischen ertönt und ein paar Meter vor uns steigt eine Dampfwolke hoch. Am ganzen Körper stellen sich mir die Haare auf.
Als sich der Dampf wieder lichtet, sehe ich Wildgirl, die grinsend und mit verschränkten Armen auf mich wartet.
»Das machen die Rohre manchmal«, erklärt sie.
Ich klopfe mir den Staub ab und gehe zu ihr. In meinem Körper kribbelt es vor überflüssigem Adrenalin. Jetzt ist würdevolles Auftreten angesagt. Mit affigem britischem Akzent sage ich: »Dort, wo ich herkomme, sind die Leitungen aus purem Gold. Vater sagt, ich bekomme vielleicht eine zu meinem Geburtstag.«
Sie lacht und boxt mir gegen die Schulter. Wer sagt, ich könnte nicht schauspielern?
»Houston, wir haben ein Problem.«
Sie hat recht. Ein Tor versperrt uns den Weg. Es fügt sich genau in die unregelmäßigen Strukturen des Tunnels und ist an einer Seite um die Rohre herum gebaut. Das Schloss hat ein altmodisches Schlüsselloch. Ich drücke die Klinke herunter, aber das Tor ist verschlossen. Mit beiden Händen rüttele ich an der Tür. Nichts.
»Also«, sagt Wildgirl, »ich glaub, ich könnte mich durchquetschen.«
Der Abstand zwischen den Gitterstäben beträgt nur knapp fünfzehn Zentimeter. Ich kann meine Zweifel nicht verbergen. »Nicht durch die Stäbe, du Dussel. An der Seite – hier.« Wildgirl steckt einen Arm durch die Lücke, wo das Tor an die Rohre angepasst ist. Zwischen den Rohren und dem Tor ist ein ordentlicher Abstand. Trotzdem …
»Ich glaub nicht, dass du da durchpasst.«
»So dick bin ich nun auch wieder nicht«, sagt sie. »Mann! Du gibst einer Frau wirklich das Gefühl, dass sie etwas Besonderes ist,
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