Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
herausgeschüttelt werden wie eine Vogelfeder. Doch sie blickte nirgendwohin. Ein langer Splitter stak ihr in den Schläfen und ragte auf jeder Seite ein Fingerbreit heraus. Nur ein dünner Faden Blut benetzte die staubige Wange. Dann ging sie in die Knie, brach lautlos zusammen, als sei sie im Stehen eingeschlafen. Später auf dem Totenbett, nachdem das überstehende Metall abgefeilt und sie geschminkt worden war, schien sie tatsächlich friedlich zu schlafen.
Im Städtchen und darüber hinaus war ihr Tod tagelang Gegenstand eifrig geführter Diskussionen und abenteuerlicher Mutmaßungen. Nicht, dass Maria das einzige Opfer des sich einen Großteil des Januars hinziehenden Beschusses gewesen wäre, und doch hatten die Vorgänge um Laura und nicht zuletzt Pieros tragischer Tod die Aufmerksamkeit für sie und ihre Familie geschärft.
Für die meisten war schnell klar, dass nur die schamlose Tochter sie auf dem Gewissen haben konnte. War es denn ein Wunder, wenn nach allem, was geschehen war, Marias Überlebenswille geschwächt, wenn nicht gar erloschen war? War es nicht offensichtlich, dass dieses Stehenleiben nur in selbstmörderischer Absicht geschehen konnte? Gab es dafür eine andere, vernünftige Erklärung?
Tatsächlich kursierten Gerüchte, Maria habe im entscheidenden Augenblick ihre Bluse aufgerissen und ihren nackten Busen dem unsichtbaren Tod entgegengestreckt, so wie es in manchen Kriegen die Jungfrauen gegenüber den Feinden taten, Gerüchte, die für diejenigen, die Maria als fromme und überaus prüde Frau kannten, mehr als abwegig klangen.
Andere, die zu verwickelteren und somit auch selbstkritischeren Gedankengängen fähig waren, vermuteten, ihr scheinbar unbegründetes Stehenbleiben könne nur als Weigerung aufgefasst werden, sich in den Schmutz der Straße zu werfen, eine letzte Auflehnung gegen die ständigen Demütigungen, die ihr von der ganzen Stadt zuteil geworden waren. Monatelang hatte sie den Kopf eingezogen und alles erduldet, monatelang bis zu diesem Augenblick, so als habe sie einen Schlussstrich ziehen wollen, als habe sie sich gesagt: Ich ducke mich nicht mehr, hier stehe ich, macht mit mir, was ihr wollt. Insofern seien nicht die verbrecherische Tochter schuld am Tod ihrer Mutter, sondern sie alle, die Nachbarn, die sie mit hinterhältiger Freundlichkeit gegrüßt hatten, Freunde und Bekannte, selbst die Marktfrau am leeren Fischstand, die hinter ihrem Rücken mit dem Finger auf sie gezeigt hatte: Seht, das ist die Tarabella. Ihre Tochter ist diejenige, die. Ihr wisst schon!
Die alte Antonella, eine verwitwete Nachbarin, die Maria jeden Sonntag und auch an manch andere Tagen zur Messe in den kleinen Dom begleitete, hatte eine andere, ihrem tief verwurzelten Glauben entsprungene Erklärung. Vielleicht hatte sich Maria wie seinerzeit unser Herr Jesus geopfert, um die Schuld der Tochter auf sich zu nehmen und sie stellvertretend zu sühnen? War das nicht eine schöne Vorstellung? Und dann lächelte sie selig, als sähe sie ihre unglückliche Freundin bereits auf den Heiligenbildchen vor sich, verklärten Gesichts aus der Mitte ihres Gesangbuchs schauend.
Noch während seine Mutter an diesem Januarmorgen zum letzten Mal ausschlief, machte sich Stefano in Begleitung von fünf Männern und einem verkrüppelten Führers auf den Weg durch die Frontlinie. So einfach es gewesen wäre, an der Küste entlang ein paar Stunden nach Süden bis nach Portoclemente zu laufen, so abwegig war dieser Gedanke angesichts der deutschen Stellungen, die sie hätten überwinden müssen. Der längere und letztlich sicherere Weg führte über die Pässe am Altissimo vorbei, der mit mehr als zweitausend Metern höchsten Erhebung der küstennahen Berge.
Es war noch dunkel, und in den Bergen lag Schnee, unter dem Schnee Eis, und mehr als einmal riskierten sie ihr Leben, wenn jemand ins rutschen kam und sie mit in den unsichtbaren Abgrund zu reißen drohte. Am frühen Morgen und völlig durchgefroren erreichten sie die andere Seite bei Seravezza und wurden von einem Kugelhagel empfangen. Die Vorausabteilung, auf der sie gestoßen waren, setzte sich aus Farbigen zusammen, die blindlings um sich schossen, und wären nicht einige ehemalige Partisanen bei ihnen gewesen, sie hätten vermutlich kurzen Prozess mit ihnen gemacht. So führte man sie ins provisorische Hauptquartier, später zur Zentrale des O.S.S. nach Viareggio. Diese Abteilung des Geheimdienstes war für den Informationsfluss zwischen der 5. Armee und
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