Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
Betrieb gewesen war. Die unregelmäßigen Fahrten der Straßenbahn zwischen Carrara und Monteforte wurden nach wiederholten Tieffliegerangriffen ganz eingestellt, und als schließlich auch noch die Artillerie allmorgendlich die Städte mit großkalibrigen Granaten einzudecken begann, da war man sich einig, dass es so nicht weitergehen konnte. Jemand musste sich durch die Frontlinie schlagen, und die Alliierten bitten, den sinnlosen Beschuss zu beenden. Die Wahl fiel auf Stefano, und dieser machte sich am Morgen eines eisigen Januartages auf den Weg.
Auch Maria, Stefanos Mutter, war an diesem Januarmorgen unterwegs. Antonios Frau lag in den Wehen lag, die Frau jenes Antonio, der seit sechs Monaten unauffindbar war und den man noch bei den Partisanen oder schon unter der Erde glaubte. So hatte Maria ihre Tasche mit den wenigen Gerätschaften genommen und sich beeilt, quer durch die Stadt zu dem Haus hinter der alten Markthalle zu kommen.
Wer aus welchen Gründen auch immer um diese Zeit den schützenden Keller verlassen musste, tat dies unter Beachtung einiger Regeln. Zum einen galt es, stets in Deckung zu bleiben. Um Plätze, breiten Straßen und unbebauten Flächen herum wurden kleinere Umwege in Kauf genommen, wenn andernorts Hausmauern oder gar Arkaden Schutz versprachen. Zum anderen galt es als sicher, dass eine pfeifende Granate Entwarnung bedeutete. Nur wenn dem Mündungsknall kein durchdringendes Orgeln über den Kopf hinweg folgte, war man in Gefahr. Die Explosion selbst war zwar erschreckend, aber ähnlich dem Krachen des Donners ungefährlich. Dann hatte es woanders eingeschlagen, und man selbst war noch einmal davongekommen.
Auch Maria bewegte sich auf diese Art vorwärts. Im Schutz der Häuserwände hastete sie voran, doch mit all ihren Sinnen war sie hinter jene Hügelkuppe bei den Männern, die die Granaten in die Rohre schoben, um sich kurz die Ohren zuzuhalten, einen neuen Zug aus der Zigarette zu nehmen. An diesem Morgen waren nur vereinzelte Abschüsse zu hören, und es bereitete Maria keine Mühe, ihnen die jeweiligen Pfeifgeräusche und Explosionen zuzuordnen. Es knallte, sie lief fünf oder sechs Schritte. Hatte sie bis dahin weder den Einschlag noch das durchdringende Heulen gehört, warf sie sich flach auf den Boden. Hatte sie das Glück gerade auf der Höhe eines Vorsprungs oder einer niedrigen Mauer zu sein, suchte sie dahinter Schutz, stets darauf bedacht, ein möglichst widerstandsfähiges Hindernis zwischen sich und dem Hügel zu bringen. Manchmal drückte sie sich in einen Hauseingang, den Hügel im Rücken. Es war, als spüre sie eine direkte körperliche Verbindung zu jenem wenige Kilometer entfernten Ort, als gebe es unsichtbare Fäden, die irgendwo in ihrem Nacken, zwischen ihren Schulterblättern entsprangen, hochsensible Nervenfasern, die ihr halfen, sich im Gewirr der Treppen und Gassen, der Durchbrüche und Durchgänge zurechtzufinden. So war das bisher gewesen, und auch heute war sie, trotz des Staubes in ihrem Mund und der aufgeschlagenen Knie, mehr bei der bevorstehenden Entbindung, als dass sie tatsächlich Angst um sich gehabt hätte.
Das war jedenfalls Vieris Ansicht, der sie an diesem Tag begleitete. Unzählige Male sollte er diese Geschichte erzählen und rätseln, was sie dazu bewogen haben mochte, im entscheidenden Augenblick einfach stehen zu bleiben und nicht an die Erde gepresst Schutz zu suchen. Tatsächlich hatte sie ihren laufähnlichen Schritt abgebremst, als wolle sie sich wie die unzähligen Male zuvor fallen lassen, war aber wie angewurzelt stehen geblieben, hatte den Kopf halb nach hinten, zum Hügel gedreht, den Blick zum Himmel erhoben, als wolle sie ihr entgegensehen, als wolle sie sich nicht von der lautlosen mit Pulver gefüllten Hülse überraschen lassen.
Er hatte „Runter!“ gebrüllt, zwei Mal, selbst im Staub liegend, hatte schützend die Arme über den Kopf gelegt und das Prasseln abgewartet, die Erde gespürt, die Steinchen, die auf ihn heruntergerieselt waren, harmlos wie die Krümel einer im Fenster ausgeschüttelten Tischdecke. Der Boden hatte gebebt, hatte aufgeregt gegen seine Brust geklopft wie früher der Berg, wenn sie den unnützen Stein weggesprengt hatten.
Noch immer stand sie da, lauschend, noch immer schien sie emporzuschauen, als sei nichts passiert, als solle dieses kleine bösartige Wunderwerk noch kommen, als sei es irgendwo in den Falten des wolkenlosen Himmels hängen geblieben und müsse irgendwann vom Wind
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