Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
Frontlinie in reguläre Armeeeinheiten aufgegangen. Andere waren mit den Besatzern nach Norden gezogen und kämpften jetzt in den Bergen um Genua. Wichtiger als der Kampf war die Versorgung der Bevölkerung geworden, das Essen, das herbeigeschafft werden musste, der Austausch von Waren, alles, was auf dieser von der Welt abgeschnittenen Insel notwendig war, um zu überleben. Und zum ersten Mal seit dem spanischen Bürgerkrieg, vielleicht zum ersten Mal überhaupt konnten sie zeigen, wozu sie in der Lage waren.
Stefano hatte sein Hauptquartier in Carrara in einem Kellergewölbe aufgeschlagen. Er hatte Laura nicht zum Bleiben bewegen können, zu groß war ihre Angst gewesen, als Kollaborateurin verfolgt zu werden. Seit dem Tod ihres Vaters Piero schien sie verstört und ohne Hoffnung zu sein. Sie war mit Maximilian von Kampen und dem restlichen Tross nach Norden gezogen. Vieri war bei Stefano geblieben, während Vittoria in der Gegend um Parma ihren Samariterdiensten nachging.
Was wie etwas Vorübergehendes begann, etwas, was nur wenige Tage oder Wochen bestand haben sollte, dauerte sechs Monate. Die Gotische Linie hielt bis in die letzten Kriegstage hinein.
„Sie kommen nicht“, sagte Vieri.
Stefano sah von seinem Tisch auf. Eine schwache Petroleumlampe brannte und warf tanzende Schatten an die Kellerwände. „Die Küste ist nichts wert“, antwortete er langsam. „Sie stehen in Viareggio und bald in Portoclemente. In zwei Stunden könnten sie hier sein.“ Er schaute Vieri er, betrachtete den harten Zug um seinen Mund, die graublauen Augen, die so erwachsen geworden zu sein schienen in der kurzen Zeit. „Ohne die Berge zählt die Ebene nichts. Das Meer im Westen, die Berge im Norden und Osten. Eine Sackgasse, die nirgendwohin führt. Ein Streifen Land, das jeder besetzen, aber nicht halten kann ohne die Berge. Deshalb sind die Deutschen abgezogen, und deshalb werden die Amerikaner nicht kommen.“ Die Männer von der 92. sind Farbige, dachte er, und niemand hat mehr Angst vor den Nazis als Schwarze, nicht einmal Juden.
„Und deshalb ist unser Platz dort oben und nicht hier.“ Vieri biss sich auf die Lippen.
Stefano hob den Blick, als könnte er hindurchsehen durch die Wand, hinaufsehen auf die weißen Berge, auf ihren unüberwindlich scheinenden Kamm. Wie oft hatten sie darüber in den letzten Wochen diskutiert? Wie oft hatte ihm sein Neffe Untätigkeit, Resignation, sogar Feigheit vorgeworfen?
Und er hatte Recht. Es hatte sich etwas geändert seit dem Sommer, der so weit zurückzuliegen schien, als gehöre er nicht mehr zu ihnen. Es hatte zu viele Tote gegeben. Zu viele Kameraden waren getötet worden. Noch mehr Bewohner der Dörfer waren den Vergeltungsaktionen zum Opfer gefallen. Es gab noch Kämpfer in den Bergen, aber die meisten hielten still, warteten, so wie sie hier unten warteten. Aber hier konnten sie helfen, zweihunderttausend Menschen mussten jeden Tag essen, Flüchtlinge und Einheimische. Es war eine fast übermenschliche Aufgabe, deren er sich angenommen hatte.
Müde suchte Stefano nach den richtigen Worten, um es Vieri ein weiteres Mal zu erklären. Dieser stand noch immer vor ihm, ein gespenstisch dünner Junge mit seltsam durchscheinenden Augen, die so wenig zu seinem dunklen Haar zu passen schienen. Vieri senkte den Blick, starrte lange auf den Boden. Schließlich drehte er sich um. Wortlos ging er hinaus. Stefano sollte ihn erst nach der Befreiung wiedersehen.
Im November kamen die Deutschen zurück, besetzten die Stadt für wenige Tage, verhafteten jede verdächtige Gestalt und rückten schließlich wieder nach La Spezia ab.
Mit dem Winter kam der Hunger, und es waren die Frauen, die wieder einmal ihre Handwagen nahmen und sich auf den langen und beschwerlichen Weg über die Berge in die Emilia-Romagna machten. In kleinen Gruppen zogen sie los, blieben tagelang fort und kamen schließlich mit Mehl zurück, mit Kartoffeln, mit Zucker. So wie sie gemeinsam die Lasten schleppten, so zahlten sie auch gemeinsam den Wegezoll, den die faschistischen Milizen eintrieben, sie bezahlten mit Lebensmitteln, und sie bezahlten mit ihren Körpern. Sie bezahlten schweigend, und auch später kam kein Wort über ihre Lippen.
Die Freude über den Abzug der Deutschen und der einheimischen Faschisten währte nur kurz. Schon im Dezember kamen die Flugzeuge. Die Amerikaner bombardierten alles, was irgendwie kriegswichtig erschien, sogar den Bahnhof von San Martino, der nicht einmal in Friedenszeiten in
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