Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
seiner Arbeit beim Verlag, unbedeutende Geschichten, Anekdoten zumeist, manchmal auch mehr, und bald kam er sich wie bei einem Beichtvater vor, in einer seltsamen therapeutischen Sitzung, in der die Rollen vertauscht schienen, in der er der Patient war, während sein Sohn nur seine schiere Anwesenheit einzubringen brauchte. Denn selten ging dieser auf etwas ein, entwickelte sich ein echtes Gespräch.
Aber es hatte auch Tage gegeben, an denen Vieri geredet hatte, zuerst halblaut und kaum verständlich mit geschlossenen Augen, später aufrecht im Bett sitzend wie jemand, der einen Alptraum hat, dessen weiße Zimmerwände mit Bildern bevölkert sind, die nur er sehen kann und die er mit zitternden Händen zu greifen sucht.
„Wie ist das Wetter?“
„Es ist ein schöner Tag, achtundzwanzig Grad, leichter Südwest.“
Vieri starrte zum milchigen Fenster. „Ja, das Licht ist gelb, fast rötlich. Ein paar Schleierwolken vielleicht. Es wird Herbst.“
Sie schwiegen lange, während es draußen langsam dunkler wurde.
„Ist dir schon aufgefallen...“ Mühsam richtete sich Vieri auf. Er schien schwächer geworden zu sein. „Jedes Krankenhaus riecht gleich. Nach Essen und nach Desinfektionsmittel.“ Er schnüffelte. „Es sind tausend Gerüche, und doch, alle zusammen ergeben immer den gleichen. Immer riecht es nur nach Apfelmus. Verstehst du das?“ Maximilian schüttelte den Kopf. Vieri lächelte. „Selbst hier...“ Eine Weile bleib es still. Schließlich fuhr Vieri fort: „Gina starb in einer Novembernacht. Im Krankenhaus von Massa. Es sind jetzt fünfzehn Jahre her. Sie hatte Brustkrebs. Es ging zu Ende, und sie wusste es, oder die Ärzte hatten es ihr gesagt. An diesem letzten Abend wollte sie die Kinder noch einmal sehen.“ Er schloss die Augen. “Stefano stand an der Wand. Versteinert. Annalisa weinte still. Und die Kinder tobten durch das Zimmer. Sie wollten Schokolade und wären am liebsten auf dem Bett herumgesprungen. Schließlich haben sie ihrer Großmutter noch einen Kuss gegeben, und wir sind gegangen. Und da waren diese Gänge, stille, dunkle Gänge, und überall hing der Geruch nach Apfelmus in der Luft.“ Er schüttelte sich. „Ich kann es nicht vergessen.“
„Das hast du mir nie erzählt.“
„Nein. – Du warst nicht da. Du warst nicht da, so wie du meistens nicht da gewesen bist.“
„Du weißt, deine Mutter... Außerdem ist es eine lange Reise...“
„Ich weiß. Ich mache dir keinen Vorwurf. Ich habe selbst lange Zeit gedacht, es wäre das Beste, ihr würdet für immer in Deutschland bleiben.“
Zum zweiten Mal innerhalb weniger Stunden dachte Maximilian an den Tag ihrer Ankunft zurück.
„Es ist nur... Manchmal stelle ich mir vor, wie es gewesen wäre, eine richtige Familie zu sein. Nicht so, nicht dieses ewige Hin und Her...“
„Es ist noch nicht zu spät.“
Vieri sah zu ihm herüber. Dann schloss er die Augen.
Alle waren sie zur Hauseinweihung gekommen. Stefano, seine Tochter Annalisa mit ihrem Mann und den Kindern, Vieri, seine Frau Paola, Pierino, ihr Jüngster, Gianluca und Marietta. Selbst Matteo hatte plötzlich in der Tür gestanden, linkisch mit einer kleinen Topfpflanze in Händen. Maximilian hatte den Bildhauer in den Sommern regelmäßig in seinem Haus unter an der Uferstraße besucht und ihm beim Arbeiten zugesehen.
Das Radio hatte sie immer wieder unterbrochen, wenn es etwas Neues von der Mondlandung gab. Dann war eines der Kinder auf die Terrasse gestürzt, um "Sie sind jetzt noch soundsoviele Kilometer entfernt!" oder "Sie haben sich gerade abgekoppelt!" zu rufen, und Laura hatte die Stirn gerunzelt: "Abgekoppelt?", während Stefano mit einer wegwerfenden Handbewegung gemurmelt hatte: "Die Amerikaner..."
Maximilian und Laura waren in der Nacht angekommen und hatten bis in den Vormittag hinein geschlafen. Dann hatten sie das Haus in Besitz genommen. Sie hatten es im Winter gekauft und nach und nach mit Annalisas Hilfe eingerichtet. Einen Teil der Möbel hatten sie aus Deutschland geschickt, einiges war neu oder stammte aus der Pension. Auch wenn noch vieles fehlte – es gab keine Bilder und keine persönlichen Gegenstände – sie hatten sich auf Anhieb zu Hause gefühlt. Die Räume waren hell und luftig, rote Steinplatten bedeckten die Böden, und die Eichenträger, die Gianni, Annalisas Mann, sorgsam freigelegt hatte, erinnerten an das mittelalterliche Gebälk der Bergdörfer, sie strahlten Beständigkeit aus, die beruhigende Schwere der Jahre.
Das
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