Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
abgesehen? –, und an den Samstagen und Sonntagen knatterten die Vespas oder Lambrettas am Haus vorbei zum Meer hinunter. Die neuen Gäste mit ihren Seidentüchern und den getönten Brillen blieben nicht mehr den ganzen Sommer, sondern nur noch einen kümmerlichen Monat, den August am liebsten, manche gar nur einzelne Wochen, und bald tauchten die ersten Wochenendgäste auf. "Wir sollten uns in Hotel Termini umbenennen", fluchte Stefano in Anspielung an den von den Faschisten erbauten Bahnhof in Rom, wenn er wieder einmal Koffer und Taschen von oder zu einem der Zimmer schleppte.
An den Steinbruch und den Beruf, den er in seiner Jugend erlernt hatte, sollte Vieri sich erst zwanzig Jahre später wieder gern erinnern lassen. Es war nicht einmal so, dass er wie viele andere froh war, der harten Arbeit entronnen zu sein. Im Gegensatz zu seinem Onkel, für den die ersten Nachkriegsjahre jenen nach dem Großen Krieg auf beklemmende Weise ähnelten, war für ihn mit dem letzten Gewehrschuss am 25. April ein neues Zeitalter angebrochen. Für Vieri war es unvorstellbar, dass sich in den Bergwerken dieselben Männer mit derselben altertümlichen Technik so abplagen sollten, wie er oder sein Vater es getan hatten oder die Generationen davor. Welche Daseinsberechtigung hatte ein lizzatore im Zeitalter des Automobils, des Düsenflugzeugs, der Atombombe?
Und als 1950 anlässlich des Heiligen Jahrs in allen Zeitungen und Zeitschriften in Worten wie in Bildern die Zukunft beschrieben wurde, Die Welt des Jahres 1975 oder, ganz unvorstellbar, Die Welt im Jahr 2000, da stand für ihn fest, dass er Zukunftsforscher werden wollte. Ein Beruf, von dem er erst kurz davor im Corriere della Sera gelesen hatte und der all seine Träume und Wünsche in sich zu vereinen schien. Was gab es Schöneres, als die Zeit, in die sie aufgebrochen waren wie in das Gelobte Land, vorwegzunehmen, auszumalen, so deutlich, wie nur ein Prophet es früher gekonnt hätte, jetzt allerdings mit der unfehlbaren Genauigkeit der Wissenschaften? Es war eine Zukunft, die so klar vorgezeichnet und verheißungsvoll war, als spräche man von einem anderen Amerika. Eine Zukunft, die schnell näher rückte, so ungeheuer schnell, dass als einzig diskussionswürdiger Punkt die Anzahl der Jahre erschien, die sie eher als erwartet Wirklichkeit würde.
In dieser Zukunft hatte jedes Auto ein kleines Atomkraftwerk, statt eines Motors, oder man fuhr gleich mit seinem Fluggleiter zur Arbeit. Die Menschen lebten in riesigen Städten unter dem Meer, und wer zu Fuß gehen musste, tat es auf einem der Rollbänder, die die Straßen säumten.
In den Häusern verrichteten gut gelaunte Roboter die Hausarbeit und servierten die Tuben und Tabletten, von denen man sich ernährte.
Man brauchte kein Wasser, um zu Duschen, und die Kleidung war nicht nur bügelfrei, sondern auch unzerstörbar und wurde auch niemals schmutzig. Das Fernsehbild war selbst ohne Brille dreidimensional, und in den Schulen musste niemand lernen. Den Unterrichtsstoff nahm man in Form von Molekülverbindungen zu sich, die ohne Umwege in die passende Hirnregion wanderten und sich dort in das Gedächtnis einfügten.
Schon baute man am ersten Raumschiff, das zu fremden Sonnensystemen aufbrechen sollte, zu den Kolonien, die überall im Weltall entstünden.
In dieser Welt gab es keinen Platz für Marmor. Es gab nur Kunststoffe, kratzfeste, unzerbrechliche, biegsame, selbstreinigende, federleichte, einfach zu verarbeitende, bunte Kunststoffe. Sie waren hitzebeständig und kältefest, sie verwitterten nicht. Sie würden bis in alle Ewigkeit halten.
Da man Zukunftsforschung nirgendwo studieren konnte, schrieb sich Vieri nach dem eilends nachgeholten Abitur in Pisa für Philosophie und Soziologie ein. Wenn er nicht in der Pension aushelfen musste, nahm er den Zug in Pietrasanta und fuhr in die nahe Universitätsstadt. Es war auf einer dieser Fahrten, dass er Paola Del Nero kennen lernte.
Vieris und Paolas Hochzeit war ein regelrechter Skandal. Von ihrer Familie und von Stefano erbittert bekämpft, von der interessierten Öffentlichkeit mit einer Mischung aus Unverständnis und Belustigung zur Kenntnis genommen, blieb sie selbst in einer Zeit, in der alles möglich schien, ein Kuriosum, etwas, was weder Vorbilder hatte noch Nachahmer fand. Es gab an der ganzen Küste kaum zwei Familien die gegensätzlicher gewesen wären, und dass ausgerechnet diese beiden sich gefunden haben sollten, war für die einen der schönste
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