Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
nichts davon.
Aber vielleicht verstehst du das nicht, denn du hast ihn ja gekannt, vielleicht hat dir der lebende Vieri genügt, so genügt wie die Erinnerung, die mir an Tante Vittoria bleibt.
Dann kam der Krieg, und es gab genug Helden und es gab genug Tote. Seit du weg bist, du und Max (dieses andere Wort kann ich nicht in den Mund nehmen), seit ich weiß, dass Sandro tot ist (für tot erklärt, aber macht das einen Unterschied?), seitdem denke ich wieder oft an Onkel Vieri. Vor ein paar Jahren habe ich sogar angefangen, regelrecht zu recherchieren. Nicht so, als wolle man einen Mordfall aufklären, aber es gibt Archive, vielleicht sogar Zeugen, und viele vertrauliche Unterlagen sind in der letzten Zeit freigegeben worden.
Es ist merkwürdig, aber je tiefer ich grabe, desto verworrener wird die Geschichte. Hast du zum Beispiel gewusst, dass Onkel Vieri Mitglied eines geheimnisvollen Zirkels war, der sich Arditi nannte? Es scheinen einige junge Offiziere dabei gewesen zu sein, inner- und außerhalb der Marine. Wer aber waren diese Arditi ? Der Name allein sagt nicht eben viel. So nannten sich vaterlands- und königstreue Soldaten im Ersten Weltkrieg, die sich durch besonderen Mut ausgezeichnet hatten, bald darauf aber auch die ersten faschistischen Kämpfer. Außerdem sollten wir D’Annunzio nicht vergessen. Ist er nicht im selben Monat in Istrien einmarschiert, nur wenige Tage vor Onkel Vieris Tod? Zufall?
Um die Verwirrung komplett zu machen, gab es in jener Zeit eine weitere Gruppe, die mittlerweile in Vergessenheit geraten ist: die Arditi del popolo . Das waren zumeist Sozialisten und Anarchisten, die bei den großen Fabrikbesetzungen und Demonstrationen jener Tage an vorderster Front standen. Für die einen waren sie die militante Speerspitze der Bewegung, für die anderen Terroristen, Schläger, kleine Gangster. Gut möglich, dass die Arditi del popolo auch Anhänger in den verschiedenen Waffengattungen hatten. Sollte es so gewesen sein, glaube ich persönlich nicht, dass sie tatsächlich der russischen Revolution nachgeeifert haben. Ich stelle mir eher einen republikanischen Kreis vor, aber sicher bin ich mir nicht.
War Onkel Vieri Republikaner? War er Sozialist, Anarchist, Monarchist oder gar Faschist? Weißt du solche Dinge? Das könnte der Schlüssel zu allem sein.
Eines Tages erzähle ich dir wirklich davon. Gemeinsam können wir das Rätsel dann vielleicht lösen. Wer weiß!
„Ich habe erst sehr viel später verstanden, dass Gianluca meine nie abgeschickten Briefe an Laura gelesen hatte. Diese verdammten Briefe.“ Dichtes, fast greifbares Licht fiel durch die gepanzerten Scheiben des Krankenzimmers, die in der Abenddämmerung rotgelb zu glühen schienen. „Ich weiß nicht, warum er sich so für Onkel Vieri interessiert hat. Vielleicht die Namensgleichheit...“ Vieri lächelte matt. „Ich war nie ein Vorbild für ihn.“ Er schwieg, und Maximilian betrachtete seine geschlossenen, dunkel umränderten Augen. „Zuerst dachte ich, es geht ihm um die ganze Familie, um Stefano, um mich – und um dich natürlich, um Laura. Er stellte viele Fragen, hat ganze Tage im Keller und auf dem Dachboden der Pension verbracht, um in altem Plunder zu stöbern, alte Zeitungen zu lesen, Zeitschriften.“ Er seufzte. “Es war diese Zeit, weißt du, diese Zeit, in der alles machbar schien. Man glaubte sich einen Schritt vor dem Ziel, und vielleicht meinte er deshalb, er könne in kürzester Zeit alles verstehen. Vieris Geschichte, Stefanos, meine.“ Er richtete sich mühsam auf, um einen Schluck Wasser zu trinken. „Und er brannte darauf, aller Welt zu beweisen, dass er nicht nur der Enkel eines landesweit bekannten Faschisten war, sondern auch seine revolutionären Wurzeln über die Widerstandsbewegung hinaus bis zum Biennio Rosso reichten, bis zu jenen wenigen Jahren.“ Wieder schwieg er lange, und sein Vater räusperte sich schon, um zu antworten, als er fortfuhr. „Die Ausgabe der Baracca Rossa war schon gedruckt, als er zu mir kam.“ Vieri sah Maximilian an. "Weißt du, das war ein Heft, wie es damals viele gab, gedruckt auf billigem Papier, mit so eng zusammenstehenden Zeilen und Buchstaben, dass man beim Lesen Kopfschmerzen bekam. Und doch arbeitete er Tag und Nacht dafür. Er war Chefredakteur. Natürlich hieß das damals anders." Vieri lächelte. "Sie glaubten, dieses Blatt würde die Welt verändern, sie glaubten, man müsse nur die richtigen Worte aussprechen oder drucken, um die Menschen zu
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