Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
Beweis für die Unberechenbarkeit der Liebe, während die anderen den endgültigen Zerfall der althergebrachten Ordnung bestätigt sahen. Es gab auch Stimmen, die von einer kindischen Rebellion sprachen und ein baldiges Scheitern nebst reumütiger Rückkehr in den Schoß der elterlichen Traditionen für unvermeidlich hielten.
Waren die Tarabellas für Paolas Familie von den Bergen gestiegene Proleten, gefährliche Anarchisten, die während des Krieges das Vaterland verraten hatten ("Mörder, das sind nur Mörder und Banditen!", pflegte Paolas Mutter, die zufälligerweise auch Laura hieß, entgegen ihrer gewohnten vornehmen Zurückhaltung angewidert zu schreien), verkörperten die Del Neros für Stefano das ganze Elend Italiens, die Monarchie, die Mussolini erst möglich gemacht hatte, die langen Jahre der faschistischen Diktatur und ihren mörderischen Pakt mit Nazideutschland. Als sich schließlich nach dem Zweiten Weltkrieg seine Hoffnungen auf einen tief greifenden Wandel zerschlugen, gehörten sie zu den altbekannten Gesichtern, die wieder an die Macht zurückfanden.
Die beiden Familien waren wie Feuer und Wasser, die beiden äußersten Punkte, die die italienische Gesellschaft auszumachen schienen. Mit dieser Heirat hatten sie sich auf geheimnisvolle und unbegreifliche Weise aneinander angenähert.
Sie waren schon verheiratet, und Gianluca war fast ein Jahr alt, als auch Vieri in das Haus Prefetto zog. Es war ein großer Kasten am Viale Roma mit undurchdringlichen Hecken und vergitterten Fenstern, und wenn das englische Kindermädchen Ausgang hatte und sie zusammen auf dem Bett lagen, das Kind auf seinem Bauch, dann meinte er manchmal eine richtige Familie zu haben. Meist aber starrte er zu den Bergen hinauf, zu ihren weiß blutenden Wunden, und dachte an die Zukunft. Eine Zukunft, die nicht kommen wollte, die sich Monat für Monat zu entfernen schien, während er nach Pisa fuhr oder zur Pension, während er lieber bei einem Freund übernachtete, bei einer Freundin, als in das Haus der Schwiegereltern zurückzukehren, dorthin, wo man für ihn nur Verachtung und Argwohn hatte.
4. Kapitel
Liebe Mamma,
ich weiß nicht, warum ich dir schreibe. Falsch! Ich weiß nicht, warum ich dir schreibe, obwohl ich diesen Brief genauso wenig abschicken werde wie die anderen zuvor. Trotzdem danke ich dir für die deinen, die ich aufmerksam lese, auch wenn ich mich wundere, bestimmte Dinge so zu erfahren (ich brauche dir nicht zu sagen, welche). Aber wir haben nie viel miteinander gesprochen, und auch jetzt schreibt jeder nur für sich.
Vielleicht schreibe ich dir diesen Brief, weil mein Namensgeber dein Bruder war und ich vermute, dass er dir nahe gestanden ist. Hättest du mir sonst seinen Namen gegeben? Vielleicht glaube ich, dass du das Recht hast, die Wahrheit über deinen Bruder zu erfahren, dass du das Recht hättest, würde ich dir tatsächlich schreiben.
Du hast mir oft von seiner Beerdigung erzählt, vom leeren Sarg, um den die Ehrenformation in der weißen Paradeuniform gestanden hat, und du sagtest, Pinguine, weiße Pinguine, aber ich habe sie mir oft als Außerirdische vorgestellt, als Marsmenschen oder irgendwas, als Wesen, die etwas unvorstellbar Fremdes tun. Und genauso fremd blieb auch Onkel Vieri. Fremd und geheimnisvoll. du weißt gar nicht, wie oft ich vor seinem Bild gestanden habe, um den Ausdruck in seinem Gesicht zu ergründen. Manchmal habe ich gedacht, ich müsste nur tief genug in seine Pupillen schauen, um etwas darin zu erkennen, das Spiegelbild von etwas, sein Flugzeug, den Fotografen, irgendeinen Hinweis.
Hast du dir niemals Gedanken gemacht, warum er gestorben ist? Du und Großmama? Warum er an diesem Septembermorgen in seine Maschine gestiegen ist, um auf das Meer hinauszufliegen? Gab es einen Sturm? Hat die Technik versagt? Wollte er sterben (ja, auch das ist denkbar)? Habt ihr euch das jemals gefragt?
Ich habe jahrelang an nichts anderes gedacht. Ich habe die Sommernachmittage damit verbracht im kalten Wohnzimmer und die Winterabende im Bett. Und, glaub mir, es gibt nichts, was ich nicht durchgespielt hätte, keinen Tod, den er nicht gestorben wäre, so abwegig er auch erschiene. Es gibt keine Schraube, die nicht versagt , und keine Böe, die ihn nicht vom Himmel geholt hätte. Er hatte alle Krankheiten, die ich mir vorstellen konnte. Er war er ein verwegener Held, ein Verräter, ein Abenteurer, ein Schmuggler, ein Spion, ein Pirat. Onkel Vieri war alles gleichzeitig und doch
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