Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
ändern, den Staat, ganze die Gesellschaft." Er schüttelte den Kopf. "Die Überschrift reichte über die ganze erste Seite: ANARCHIE – DER TRAUM UNSERER HEIMAT! Es fing mit der Geschichte des erfolglosen Mussolini-Attentäters an. Mit dem anarchistischen Widerstand in den Jahren vor dem Krieg ging es weiter. Plötzlich, ich wollte das Heft schon zur Seite legen, sprang mich ein Name an: Vieri Tarabella. Mein Name. Aber es war nicht mein Name, es ging um Onkel Vieri, um seinen Tod. Es war Onkel Vieris wahre Geschichte oder das, was Onkel Vieris wahre Geschichte hätte sein können. Nach langen und sorgfältigen Recherchen hatten sie herausgefunden, dass er nicht, wie offiziell behauptet, bei einem Übungsflug über den Golf von Taranto abgestürzt war. Er gehörte einer kleinen Gruppe revolutionärer Offiziere an, die sich Arditi del Popolo nannten. Unter ihnen waren Anarchisten, Sozialisten, Spartakisten. Sie hatten sich schon im letzten Kriegsjahr zusammengefunden. Im entscheidenden Augenblick wollten sie sich an die Spitze der Revolution stellen. Bis dahin..." Vieri sah seinen Vater an. "Du wirkst so abwesend."
„Entschuldige, ich musste gerade an etwas denken.“ Maximilian zog ein frisch gebügeltes Taschentuch aus der Hosentasche, entfaltete es und putzte sich lange die Nase. Dann sagte er: „Weißt du, mir fiel gerade ein, wie ich deine Mutter kennen gelernt habe.“ Er nahm die Brille ab, um sich die Augen zu reiben. Dann starrte er auf das Gestell, bewegte die Bügel so vorsichtig, als taste er nach dem gebrochenen Flügel eines Vogels. „Onkel Vieri war zu diesem Zeitpunkt schon fast sechs Jahre tot, und doch schien es, als sei er gerade erst aus dem Zimmer gegangen. So war es für Laura, und so war es auch für mich. Jeden Augenblick konnte er mit seiner Flugmaschine über den Strand donnern. Und seine Fotografie. Es ist dasselbe Bild, das noch heute auf unserer Anrichte steht und doch...“ Langsam zog er die Brille wieder auf und blinzelte. „Es ist so lange her, es ist so unglaublich lange her, dass ich nicht mehr weiß, ob es ihn wirklich gegeben hat.“ Beide schwiegen sie. Dann fuhr Maximilian fort. „Die Toten sterben weiter, sie sterben weiter Jahr für Jahr und nicht einmal wir, die noch leben, die sie im Herzen tragen, können es verhindern.“
„Nein, Vater, es sind nicht die Toten, die sterben, wir sind es, die Lebenden, die zugrunde gehen. Und mit uns sterben auch die Toten, sterben auch sie endgültig.“
Es war dunkel geworden. Die Fensterscheiben glichen jetzt matten Spiegeln, die das Licht der blauweiß brennenden Röhren zurückwarfen. Wenn man hinaus sah, meinte man, andere Krankenzimmer zu sehen, Betten, Rollcontainer, aus denen Kabel und Schläuche ragten, Apparate, die von den Decken hingen oder an den Wänden befestigt waren.
„Willst du weiter erzählen?“
Vieri nickte. „Gianluca...“ Seine Stimme klang rau, und er räusperte sich. „Gianluca war so stolz, so stolz auf seinen toten Großonkel, dass es mir wehtat. Ich brauchte nicht weiter zu lesen. Ich wusste, was dort stand. Es war die gleiche Geschichte, die auch ich schon Jahre zuvor in Erfahrung gebracht hatte. Die Wahrheit und doch nur die Hälfte davon.“ Er trank einen Schluck Wasser. Langsam kaute er darauf, als äße er tatsächlich etwas. Seine Hand zitterte kaum merklich, als er das Glas zurückstellte. „Stell dir sie Situation vor: landesweiter Generalstreik. Die Menschen demonstrieren, besetzen die Fabriken. Gleichzeitig marschiert D’Annunzio nach Istrien. Heim ins Reich! Faschisten und Sozialisten liefern sich einen erbitterten Kleinkrieg. Man lauert sich auf, jagt sich. Der Bürgerkrieg ist nahe, fast mit Händen zu greifen. In der Armee gibt es Aufruhr. Soldaten, die sich weigern, gegen Fabrikbesetzer vorzugehen. Sie verschanzen sich in den Kasernen, desertieren. Und Onkel Vieri und seine stolzen Arditi del Popolo sitzen in Taranto fest und starren Löcher ins Meer. Sie warten auf den Aufstand, doch der kommt nicht. Sie sind zermürbt, haben wochen- und monatelang gewartet. Fliegen mit ihren Papierfliegern sinnlose Schleifen über ein totes Meer, während die Genossen in den Straßen kämpfen und sterben. Sie warten darauf, dass sich die Armee auf die Seite des Volkes stellt, doch die denkt nicht daran. Sie hat nichts Besseres zu tun, als gemeinsam mit den Faschisten in Istrien einzumarschieren. Schließlich beschließen sie, selbst loszuschlagen.“ Vieri schien in sich zusammengesunken und
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