Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
irgendeine verrückte Skulptur. Eine Skulptur oder ein Spielzeug, jedenfalls nichts, womit sich ein Soldat beschäftigen sollte. Hier draußen auf dem Flugfeld, auf dem verbrannten Gras, wirkt es noch fremder als vorher im Hangar. „Es ist ein Wunder, dass es fliegt“, sagt er wie zu sich selbst.
„Es ist das Modernste und Schnellste, was wir haben, signor capitano .“
„Es ist aus Papier, Pertini, aus Stoff und Papier. Ein Windstoß genügt, und es fällt in sich zusammen wie ein Kartenhaus.“ Er schaut in das offene Gesicht des Mechanikers. Er könnte mein Vater sein, denkt er, und für einen Augenblick sieht er Piero vor sich, Piero auf dem Flugtag in Brescia. Damals muss er etwa so alt gewesen sein wie Pertini jetzt. „Eines Tages wird man die Flugmaschinen aus Eisen bauen, Pertini, aus Blech, aus Aluminium, aus irgendetwas, was härter ist als der Pilot.“ Er sieht D’Annunzio am Flugtag in Brescia unter dem Jubel der Tausenden aus dem Wright-Doppeldecker steigen, ein kleiner, fast schüchtern wirkender Mann, der den Himmel bezwungen hat. Wie sehr habe ich mich danach gesehnt zu fliegen, denkt er, wie sehr habe ich mir gewünscht, so zu sein wie er.
Dann setzt er seine Fliegerkappe auf, rückt sie zurecht, schiebt die Brille darüber. Er nimmt die Handschuhe, schlüpft hinein und drückt in das Leder zwischen den Fingern, bis es wie eine zweite Haut über den Knöcheln spannt. Die Hand schon an der Leiter, hält er inne. Er greift in die Jacke und holt die Fotografien heraus. „Pertini, heben Sie das bitte für mich auf. Ich habe angst, ich könnte sie verlieren.“
„Zu Befehl, signor capitano !”
„Pertini?“
„ Signor capitano ?“
„Haben Sie ein Boot?“
„ Signor capitano ?“
„Fahren Sie manchmal mit dem Boot aufs Meer hinaus?“
“Ja, mein Bruder hat eines. Manchmal, wenn ich frei habe, dann fahren wir zum Fischen hinaus.“
„Es ist seltsam, Pertini, seit über einem Jahr bin ich schon hier, aber ich bin kein einziges Mal mit dem Boot hinaus gefahren.“
„Wir nehmen Sie mit, s ignor capitano . Am nächsten Sonntag. Wenn Sie können. Serena, meine Nichte, verlobt sich. Vielleicht fangen wir einen Thunfisch oder einen schönen Schwertfisch.“
„Das Meer ist hier so anders.“ Vieri schaut hinaus, aber seine Augen sind aufwärts gerichtet, als stiegen sie schon jetzt hinauf wie später das Flugzeug. Mit einer Hand umfasst er noch immer die erste Sprosse der Leiter. „Dieses Grün. Ich habe noch nie ein so helles Grün gesehen. Es ist wie Glas, hauchdünnes Glas. Pertini, wie fährt sich ein Boot auf diesem Meer?“
„Es ist Wasser, s ignor capitano , einfach nur Wasser.“
„Wissen Sie, Pertini, ich habe mich immer gefragt, was auf der anderen Seite ist.“ Er löst die Hand von der Sprosse, um hinauszuzeigen, und der Mechaniker folgt ihr mit den Augen, als gäbe es dort tatsächlich etwas zu sehen.
„Land, nehme ich an, s ignor capitano , Afrika oder Arabien oder die Türkei, ich weiß es nicht genau. Auf jeden Fall Wüste, nichts als Wüste. Der Wind ist voller Sand.“
„Ja, Pertini, der Wind ist voller Sand.“
Vieri lächelt. Einen Moment lang legt er seine Hand auf die Schulter des Mechanikers. Dann klettert er schnell die Leiter hinauf. Mit dem Zeigefinger macht er eine kreisende Bewegung, und der Mechaniker umfasst die Schaufel des Propellers und hängt sich mit seinem ganzen Gewicht daran. Zögernd springt der Motor an, zündet ein paar Mal fehl, um dann am Gas rund zu laufen, sich zu einem ohrenbetäubenden Kreischen zu steigern. Sieben Zylinder, denkt Vieri, eine feine Maschine.
Der Mechaniker steigt nun ebenfalls auf die Leiter. Er reicht ihm das Wachs. „ Signor capitano? ”
“Ja, Pertini?”
“Was ist auf der anderen Seite?” Der Mund des Mechanikers ist dicht an seinem Ohr, um den Lärm des Motors zu übertönen.
Vieri stopft sich die Wachskügelchen sorgfältig in die Gehörgänge. „Nichts, Pertini. Ich glaube, nichts.“ Er hebt die Hand zum Gruß und löst die Bremsen.
Der Mechaniker springt ab, und die Albatros rollt langsam über das Flugfeld. Vieri betätigt die Höhen- und das Seitenruder, und Pertini kommt es vor, als winke er ihm zum Abschied zu. Dann bleibt das Flugzeug noch einmal stehen. Das Dröhnen des Motors füllt die Luft. Mit einem Ruck macht sich die Maschine los.
Die Albatros stemmt sich gegen den Wind, der jetzt stetig aus Süden über das Feld zieht. Nur sehr langsam kommt sie voran. Es ist fast, als müsse
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