Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
zwischen Vater und Sohn, zwischen Führer und Geführtem. Nur die Familie...“
Die Diskussion nahm an Schärfe zu, und Maximilian, der Josefs Ansichten kannte, ging zum Tisch, um Oliven und ein paar Scheiben Speck zu essen. Nachdem sich die Anspannung der Lesung gelegt hatte, war sein Appetit erwacht. Er wechselte ein paar belanglose Worte mit Matteo, der wie so oft allein am Tisch saß und mit Trinken und Rauchen vollauf beschäftigt schien. Als dieser wieder in sein stummes Brüten verfiel und auch Laura fern blieb, ging er in den Hof hinaus.
Die wenigen Schritte taten ihm gut, und der Wind, der am Abend auf Nordwest gedreht und aufgefrischt hatte, vertrieb den Rauch aus seinen Haaren und die Müdigkeit, die mit dem Wein seinen Geist benebelt hatte. Noch war die Nacht klar, hell erleuchtet von einem riesigen Vollmond, der von den Bergen hinab ins Meer stieg, aber schon am folgenden Tag sollte es Regen geben. Das hatte Piero, der Wirt, beim Abendessen angekündigt, und Maximilian zweifelte nicht daran, dass es so wäre. Der kleine Gewürzgarten, den Concetta hinter dem Haus angelegt hatte, glänzte im blauweißen Licht, und er roch das Gras, die Feuchtigkeit der Erde, die süßen Aromen des Rosmarins, von Thymian und Oregano. Und das Basilikum, das schon hüfthoch stand und in großen Mengen als pesto , aber auch im Tomatensalat Verwendung fand.
Vielleicht noch mehr als seine Zuhörer hatte die Lesung ihn selbst aufgerüttelt, der fast vergessene Krieg, den er Vieri zu Ehren, Laura zu Liebe beschworen hatte in der Eindringlichkeit seiner Verse. Eine alte Unruhe war wieder erwacht, ein Gefühl der Hoffnungs- und Ausweglosigkeit. Es nagte an seinen Eingeweiden und kroch ihm die Speiseröhre hinauf, um ihm die Kehle zuzuschnüren. Und während er am Mauerchen stehend in die milde Sommernacht starrte, in den mondgleißenden Nachthimmel, meinte er plötzlich in jene andere Nacht zu spähen, hinüberzuspähen zu den Stacheldrahtverhauen, dem mit Trichtern übersäten Niemandsland, zu jenen einhundert unendlichen Metern, die sie von den Schützengräben der Franzosen trennten. Und die Stimmen der anderen Gäste vermischten sich mit den Lauten der Eulen und Fledermäuse zu einem Brausen, das wie damals die Nacht füllte, wenn er einem entfernten Ruf lauschte, dem dunklen Klang einer Sprache nachspürte, von der er nicht hätte sagen können, ob sie deutsch oder feindlich sei. Und so waren die Linien zerflossen, die mathematische Anordnung der Gräben, ihre strenge den Generalstischen entsprungene Logik, und jener Streifen, der am Tag wie mit einem Messer gezogen von Norden nach Süden reichte, die Welt teilte wie ein auf den Kopf gestellter Äquator, franste aus, schwappte hinauf und hinunter, um sich hinter ihn zu schleichen, ihn zu umschließen wie Wasser. Dann meinte er, auf einem einsamen Ausguck zu stehen und in die Unendlichkeit eines fremden Meeres zu starren. Dann gab es kein Osten oder Westen mehr, keinen Feind, der vor einem gewesen wäre, und keinen Freund an seiner Seite. Es gab nur noch ihn allein. Und so hatte er manch eine Nacht auf diesem geheimnisvollen Meer verbracht, verloren wie ein Schiffbrüchiger.
„An was denkst du?“ Laura stand hinter ihm. Sie hatte ihre Schürze abgelegt. Es musste spät geworden sein, denn der Mond stand schon hoch am Himmel.
„An den Krieg. An den Geruch des Krieges.“ Sie sagte nichts, und Maximilian war ihr dankbar dafür. Sie blieb ein paar Meter entfernt an jener Stelle der Mauer stehen, von der aus sie das wirkliche Meer sehen konnte. „Es ist zum Lachen, aber der Krieg riecht wie eine Gastwirtschaft. Es riecht nach Schnaps und nach Rauch, nach Tabak, nach schmutziger Wäsche und nach Erbrochenem. Nach Pisse. Entschuldige.“ Sie schwiegen beide. „Vielleicht riecht es immer so, wenn Männer zusammen sind.“ Er lachte, aber es klang nicht fröhlich. Später sagte er: „Und es riecht nach Erde. Du glaubst gar nicht, wie stark Erde riechen kann. Es ist der hartnäckigste Geruch, den ich kenne. Schlimmer als Fisch, schlimmer als Petroleum. Feuchte, braune, klumpige Erde. Du hast sie an den Händen, in den Stiefeln, unter den Fingernägeln, zwischen den Zähnen, in deinem Napf, in den Taschen – und im Bauchnabel.“ Wieder lachte er. „Manchmal denkst du, du bist ein Maulwurf. Irgendein Tier, das unter der Erde lebt und nur ab und zu heraus kommt. Immer ängstlich. Die Sonne macht dir Angst – und der Mond.“ Er blickte nach oben in die fleckige Scheibe,
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