Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
die von einer blassen Aureole umgeben schien. „Der Wind macht dir angst und die Weite, besonders die Weite.“ Unten am Strand brachen sich die Wellen. „Wie schön muss es sein zu fliegen!“
„Ja, es muss schön sein.“
Beide dachten sie an den toten Bruder. Sie an einen stolzen jungen Mann, der über die Plätze der Städte kreiste, um seine Flugblätter abzuwerfen, umjubelt von der Menge. Er an jenen anderen Soldaten, den die Grenzen nicht scherten, der in jede Richtung des Himmels fliegen durfte, für den die Gräben nur weit entfernte Linien waren, in die er Feuer und Stahl lud wie im Spiel. Für ihn gab es keine Granaten, kein Gas und keine singenden Kugeln. Nur die Sonne, die ihm ins Gesicht schien, der Wind, auf dem er ritt und der ihm die Leichtigkeit eines Vogels verlieh.
Lange standen sie da, ein paar Meter voneinander entfernt, und starrten hinaus in die Nacht. Der Krieg, den er in seinen Gedichten beschworen hatte, stand zwischen ihnen, und Maximilian fühlte eine tiefe Trauer in sich aufsteigen, einen neuen Schmerz, der sich unter die alten mischte.
So hatten Georg und er ihre letzte Nacht verbracht. Schweigend, nachdem alles gesagt war, jeder für sich und mit seinen Gedanken, unfähig, noch etwas zu ändern. Die langen Stunden bis zum Morgengrauen hatten sie gemeinsam gewacht, während die Franzosen auf der anderen Seite schon Weihnachtslieder sangen, während die Leuchtkugeln in gleichmäßigen Abständen hinaufrasten und den narbenübersäten Acker in ihr gespenstisches Licht tauchten.
„Warum weinst du?“ Laura stand an seiner Seite.
Er wischte sich über die Augen. „Weißt du, auch ich hatte einen Bruder.“ Er dachte nicht an Willi, seinen leiblichen Bruder, den hochdekorierten Offizier. Der war ihm jetzt gleichgültig. „Er ist im Krieg gefallen.“ Gefallen. Wie harmlos das klang! Im Feld gefallen wie der Bauer, der über eine Ackerfurche stolpert.
Sie hatte ein Taschentuch in der Hand, um ihm das Gesicht abzutrocknen. Er ergriff ihr Handgelenk und zog sie an sich. Sie war fast genauso groß wie er selbst, und er musste seinen Kopf nur wenig neigen, um seine nasse Wange an ihre zu schmiegen. Er schlang die Arme um sie und drückte sie an sich, hielt sie fest, während ein Zittern durch ihren Körper lief und die Wärme ihrer Haut zu ihm drang. „Ich glaube, ich habe ihn getötet“, murmelte er ihr ins Ohr, und vielleicht hatte er zu leise gesprochen oder sie hatte ihn nicht verstanden, denn sie antwortete nicht.
6 . Kapitel
An dem Tag Anfang Juli, als Stefano verschwand, kamen weitere Gäste an.
Inzwischen war der Monolith auf den Weg hinunter zum Hafen gebracht worden. Wie ein gefährliches Raubtier hatte man ihn in einen Holzkäfig gesperrt, und fünfzig oder mehr Männer und ebenso viele Ochsen mühten sich jeden Tag um die wenigen Meter, die sie bis zum Abend zurückgelegt hätten. Es war ein langer und beschwerlicher Weg. Straßen mussten verbreitet, Kurven begradigt, ganze Brücken befestigt oder erneuert werden. Erst am Ende des Sommers würde man ihn mit Hilfe eines eigens in England bestellten Kranes an Bord der Barkasse hieven, die ihn nach Rom brächte. Wieder gäbe es ein Fest und auch das größte Feuerwerk seit dem Ende des Großen Krieges. Doch bis dahin war es lang. Noch hing der Stein an seinen Tauen wenige hundert Meter unterhalb des Bergarbeiterdorfs.
Obwohl sich die erste Aufregung nach wenigen Tagen gelegt hatte, blieb der Stein Hauptgesprächsthema in den Dörfern und Städten der Küste. In den Bars diskutierten die Männer die Strecke und die Hindernisse, die sich ihm in den Weg stellen könnten, in den Kirchen schlossen die Pfarrer einmal mehr die Gesundheit der Bergarbeiter in ihre Gebete ein, und selbst in den Schulen durften die Klassensprecher ein italienisches Fähnchen in die Landkarten stecken, um den gegenwärtigen Standort und den Wegefortschritt kenntlich zu machen. Für die Gäste der Pensione Moderna war der seltene Fund ein willkommener Anlass, um mit den Wirtsleuten und den Dorfbewohnern ins Gespräch zu kommen. So wie man zuvor die Unwägbarkeiten von Wetter und Meer bemüht hatte, so fachsimpelte man jetzt über Zugstärken, Seilquerschnitte und Belastungsprofile.
Maximilian und Laura gingen fast täglich spazieren. Am frühen Nachmittag, in den Stunden der größten Hitze, dann, wenn sie mit der Küche fertig war und das Abendessen noch fern, trafen sie sich am Bootshaus. Ihr Weg führte sie zur Flussmündung, manchmal
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