Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
darüber hinaus, oder zur alten Saline, gingen sie in die andere Richtung. Wenn sich überhaupt kein Lüftchen regte, setzten sie sich auf dem verlassenen Pier der Verladestation oder in den Sand in den Schatten eines großen Marmorblocks. Dann lockerte Maximilian seinen Kragen und fächelte sich Luft mit seinem Strohhut zu. Ihr dagegen schien die Hitze nichts auszumachen. Sie schwitzte nicht, und gleichgültig, wie viel sie im Haus zu schuften hatte, stets schien sie frisch umgezogen und duftete nach Veilchen oder Lavendel.
War gerade niemand in der Nähe, nahm er ihre Hand in die seine, und sie ließ ihn gewähren, so wie sie ihn in jener Nacht nach der Lesung hatte gewähren lassen. Auch sein Arm um ihre Schultern schien ihr angenehm. Dann drängte sie sich an ihn oder legte ihren Kopf an den seinen. Doch jedes Mal, wenn er versuchte, sie zu küssen, wandte sie sich ab, und Maximilian, der mit den ungeschriebenen Regeln der Verführungskunst wenig vertraut war, fragte sich manchmal, was ihr Verhalten bedeutete, was er als Ermutigung ansehen sollte und was als Zurückweisung. Hätte er Josef um Rat gefragt, hätte dieser bestimmt schallend gelacht. Aber schließlich wusste er selbst nicht genau, was er wollte. Es gab Nächte, in denen er Laura inbrünstig herbeidachte, und Tage, an denen sie ihm seltsam fremd erschien, an denen Anne, seine Verlobte, durch sein Bewusstsein geisterte und er sich fragte, wie es zuhause in Deutschland weitergehen sollte. Auch über Vieri, über Georg oder über den Krieg hatten sie nicht mehr gesprochen. Er erzählte ihr von Hamburg, vom großen Hafen, von der Speicherstadt und sie ihm von Venedig, wo sie mit der Mutter manchmal bei Verwandten zu Besuch gewesen war. Die Gegenwart schien ihnen zunächst einmal zu genügen.
Nach dem Verschwinden Stefanos war die Ankunft der Witwe das zweite Ereignis, das innerhalb kürzester Zeit das beschauliche Leben in der Pension durcheinanderwirbelte. Vielleicht hätte jeder Nachzügler das zerbrechliche Gleichgewicht der Gruppe, dieses sorgsam ausbalancierte Geflecht von Zu- und Abneigungen, von Empfindlichkeiten und Rücksichtnahmen auf eine harte Probe gestellt. Zweifellos war aber Signora Petrelli besonders geeignet, die Geduld ihrer Mitmenschen zu strapazieren. Hinzu kam, dass sich die Witwe nicht umsonst mit dem Zusatz " die Lustige" schmücken ließ. Dass sie in kürzester Zeit die weiblichen Bewohner des Hauses gegen sich aufbrachte, schien sie genauso zu amüsieren, wie sie sich an der schwindenden Widerstandskraft der männlichen Pensionsgäste erfreute. So wurde sie zu einer ernsten Prüfung sowohl der neuen zarten als auch der bewährten Bande zwischen den Geschlechtern. Ihre Tochter Margherita, auf vielerlei Weise eine Kopie ihrer selbst, tat ein Übriges. Nur die politischen Fronten blieben davon unberührt.
Dass Signora Petrelli schon bessere Tage gesehen hatte, unterstrich sie bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Schon ihre Ankunft hatte für Aufsehen gesorgt. Piero, der höchstpersönlich mit dem Handkarren zum Bahnhof gegangen war, musste den Pferdewagen holen, um einen Berg verschlissener Taschen und Koffer, Hutschachteln und Truhen verstauen zu können. Und so waren sie die Straße zur Pension heruntergekommen: die Witwe und die Tochter auf dem Bock thronend, jede von ihnen einen spitzenverzierten Sonnenschirm haltend, während der Wirt, die Zügel in der Hand, neben dem Wagen hergelaufen war, weil die Ladefläche vom Gepäck der Damen überquoll.
Sie versäumte es nicht, darauf hinzuweisen, dass sie unter normalen Umständen im Hotel Principe logiert hätte oder gar im neuen Grand Hotel und dass widrige Umstände sie dazu zwangen, mit dem einfacheren Etablissement vorlieb zu nehmen. Es war das einzige Mal, dass man sie "Mein armer seliger Mann" sagen hörte. Bald wurde gerätselt und gemutmaßt, wessen Witwe sie wohl sei, eines Offiziers oder Wirtschaftsmagnaten, eines Adligen gar, und schon gab es erste Stimmen, die unter vorgehaltener Hand ihre Witwenschaft gänzlich in Abrede stellten, die die verschränkten Goldringe an ihrem Finger als billige Inszenierung entlarvt haben wollten, um den unehelichen Stand der Tochter zu vertuschen.
Tatsache war, dass Signora Petrelli ein akzentfreies Französisch sprach. Sie habe vor dem Krieg einige Jahre in Paris gelebt, wie sie weltgewandt Auskunft gab, sei aber dann noch vor dem Kriegseintritt Italiens nach Mailand zurückgekehrt. Tatsache war auch, dass sie riesige Hüte trug
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