Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
konnte, in ihrer Mitte zu stehen und sein Glas zu halten.
Jetzt, da der Druck, die anfängliche Nervosität und die Zweifel von ihm gewichen waren, die ihn Vers für Vers begleitet hatten, fühlte er sich leer.
„ Très bien! Wirklich sehr gut!“ Massimo Giacometti stand plötzlich vor ihm. „Ich bin zwar nicht der Ansicht unseres russischen Freundes, dass das die Poesie der Zukunft ist, und, nebenbei bemerkt, die italienischen Futuristen wissen mittlerweile, wo sie hingehören, aber ich bewundere Ihre Fähigkeit, ihr neues Leben einzuhauchen. Nun, es ist nicht wirklich neu, nein, das nicht, aber gekonnt, wirklich gekonnt.“ Er lächelte dünn. „Dann sind Sie sicher ein Bewunderer dieses jungen Bolschewiki... Wie heißt er doch gleich? Kolakowski?“ Und er fügte hinzu, er sei naturgemäß kein intimer Kenner der russischen Revolutionsdichtung, meine aber, die eine oder andere Gemeinsamkeit zu erkennen. Nicht, dass er ihn des Plagiats verdächtige, Gott bewahre! Aber immerhin, die eine oder andere Metapher...
„Wir sind natürlich alle sehr gespannt, was Sie uns in zwei Wochen zu Gehör bringen werden.“ Scott, der Amerikaner, zwinkerte Maximilian zu. Er kaute auf einer dicken Zigarre. In der einen Hand hielt er ein weingefülltes Glas, in der anderen einen schweren kristallenen Aschenbecher.
„Nun“, Giacometti atmete tief ein, und das Seidentuch, das ihm auf die Brust fiel, hob sich um einige Zentimeter, „ich werde vom neuen Italien künden, vom jungen Italien. Nicht der Krieg ist das größte Übel dieser Welt, sondern die Dekadenz. Und ich hoffe sehr, dass Sie diesen Sommer hier nutzen werden, um uns besser zu verstehen, Sie alle, und dass Sie dann die Kunde hinaustragen in unser armes, gelähmtes Europa, in die ganze Welt!“
„Da muss ich Ihnen widersprechen.“ Josef Lindemann beteiligte sich selten an ihren Diskussionen. Wenn er es tat, dann war er entweder betrunken, oder es machte ihm Spaß, sich mit jemandem anzulegen. Oft kam das eine zum anderen. „Nicht die Dekadenz lähmt unsere Nationen, es ist die sexuelle Unterdrückung, die Tabuisierung des Geschlechtlichen. Ich habe unlängst in Berlin den Vortrag eines österreichischen Psychoanalytikers gehört...“
„Dieses Juden? Wie heißt er doch gleich, Freud?“
„Nein, ich glaube, er hieß Reich.“ Für einen Augenblick schien Josef Lindemann aus dem Konzept gebracht, und er bedachte Giacometti mit einem vernichtenden Blick.
Die Seitengespräche waren verstummt, und die allgemeine Aufmerksamkeit richtete sich auf den Deutschen.
Germaine war näher getreten. „Und was sagt dieser Herr Raisch?“ Sie führte das Glas zum Mund. Ihre Armreifen fielen klappernd in die Armbeuge.
„Es wird doch nichts Unschickliches sein?“ Lidia schien mehr interessiert, als abgestoßen.
Josef Lindemann, dem das neu erwachte Interesse des weiblichen Teils der Gruppe Auftrieb gab, räusperte sich. „Nun, im Grunde ist es ganz einfach. Wenn man die sexuelle Natur des Menschen anerkennt und ihr ein Recht auf Entfaltung gewährt, und damit meine ich freie Entfaltung und nicht das, was man im sorgsam gehüteten Garten der Ehe ihr zuzugestehen bereit ist...“
„Die Natur des Menschen ist seine Rasse.“
Josef überging Giacomettis Einwurf. „Wussten Sie, dass es in Deutschland bis vor wenigen Jahren Krankenhäuser gab, in denen man den Kindern und Jugendlichen die Arme ans Bett gefesselt hat, um sie davon abzuhalten... nun, die Damen mögen verzeihen, um zu verhindern, dass sie masturbieren? Konfessionelle Krankenhäuser, man muss es nicht erwähnen!“
„Freie Liebe?“ Scott, der noch immer keine Hand frei hatte, versuchte mühsam die Asche seiner Zigarre abzustreifen. „In der Tat, davon spricht die ganze Welt. Aber nennen Sie mir einen Ort, wo man das erfolgreich praktiziert hätte!“
„Die gibt es durchaus, durchaus...“
„Also, ich finde das einen interessanten Gedanken.“ Germaine kicherte verlegen.
„...außerdem müssten Sie präzisieren, was Sie mit erfolgreich meinen.“
„Ich kann mir überhaupt nicht vorstellen, wie das aussehen soll.“ Lidia schüttelte den Kopf, mit einem Blick streifte sie Scott.
Giacometti erhob den Zeigefinger und unterbrach Josef, der zu einer Erwiderung angesetzt hatte. „Dekadenz! Als hätte es eines Beweises bedurft! Dieses Gebräu jüdisch-marxistischer Irrlehren ist es, das die Volksgemeinschaft vergiftet. Freie Liebe, das ich nicht lache! Was wir brauchen ist Vaterlandsliebe, die Liebe
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