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Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)

Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)

Titel: Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Marco Lalli
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die Wirtsfamilie nach Hause kam, hatten sie sich müde geredet. Sie waren schon früh zur Pension zurückgekehrt. Wer nicht auf sein Zimmer gegangen war, saß im Hof. Scott und Matteo hatten großformatiges Papier und Kohlestifte besorgt und zeichneten Pläne. Obwohl der Bildhauer nicht wirklich an einen Erfolg zu glauben schien, stürzte er sich in die Arbeit, froh darüber, endlich seine Hände gebrauchen zu können. Die russischen Brüder spielten Karten, und Maximilian, der eine Weile erfolglos versucht hatte, die fremdartigen Regeln zu verstehen, hatte die Zeitung aufgeschlagen.
    Als Laura in ihrem Sonntagskleid auf den Hof kam, verschlug es ihm fast die Sprache. Er hatte sie noch nie anders gesehen, als in ihrer Arbeitskleidung, der Schürze, den groben Röcken und Blusen. Selbst damals, als sie in die Berge zum Steinbruch gefahren waren, hatte sie nur ein schlichtes Baumwollkleid getragen. Heute, in ihrem spitzenbesetzten Kostüm und dem eleganten Hütchen, erschien zu sehr erwachsen. Sie war eine richtige Frau, und, was ihn fast noch mehr erstaunte, ihr Aufzug passte zu ihr, als hätte sie nie etwas anderes am Körper gehabt. Nichts ließ sie linkisch oder verlegen erscheinen. Vielleicht war es auch der Ernst in ihrem Gesicht, der sie älter wirken ließ. Sie schien bedrückt.
    Laura setzte sich zu ihm und schlug die Hände vors Gesicht. Dann sah sie auf. Tränen standen ihr in den Augen. „Es ist so schrecklich.“ Ihre Stimme klang leise, sie flüsterte fast. Maximilian, der es nicht wagte, in aller Öffentlichkeit ihre Hand zu nehmen, wusste nicht, was er antworten sollte. Dann erzählte sie ihm, dass sie seit fast sechs Jahren, Monat für Monat, Tea, die jüngste Schwester, besuchten. Während der großen Epidemie nach dem Krieg an der Spanischen Grippe erkrankt, hatte sie nicht das Pech oder Glück gehabt, wie Millionen anderer sofort daran zu sterben. So vegetierte sie in einer Einrichtung vor sich hin, die Laura "Sanatorium" nannte, wobei offen blieb, ob es sich nicht eher um eine staatliche Irrenanstalt handelte, denn Laura wirkte beschämt, als hafte dem Zustand der Schwester der Makel der Geisteskrankheit an, der Krankheit des Gemüts vielmehr. Über Tea sprach man nur hinter vorgehaltener Hand. Meistens schlief sie, selten waren die Zeiten, in denen so etwas wie Bewusstsein oder Verständnis in ihren Augen aufleuchtete, sprach man sie an. So blieb sie aus der Familie ausgeschlossen, und der Gang nach Pisa wurde von Jahr zu Jahr immer mehr zu einer Pflichtübung, von der man nicht wusste, wem sie geschuldet war. Tea war hinabgetaucht in diese andere geheimnisvolle Welt hinter ihren papiernen Lidern, in eine Welt ohne Wiederkehr, und irgendwann hatte man sie aufgegeben. Nur Laura weinte manchmal um sie, wenn sie von den seltener werdenden Besuchen zurückkam.
    „Laura!“ Pieros Stimme klang barsch – auch er schien sein inneres Gleichgewicht noch nicht wieder gefunden zu haben – und Laura lief hinein, um sich umzuziehen.
    Als alle Gäste schon zu Tisch saßen, kam der Prefetto, der Provinzvorsteher. Vielleicht hatte er diese Stunde mit Absicht gewählt, denn er schien kein Aufsehen erregen zu wollen. So als wäre er auf dem Heimweg zufällig am Haus vorbeigekommen, auf einem Sonntagsspaziergang zum Strand vielleicht, streckte er den Kopf durch die Tür. Vittoria lief in die Küche, um den Vater zu holen. Dieser sah den weit aufgerissenen Augen der Tochter sofort an, dass etwas nicht stimmte. Schnell wischte er sich die mehligen Hände ab und warf die Schürze über einen Stuhl. Steif begrüßte er den unerwarteten Gast.
    „Aber Piero, warum so förmlich? Wie lange kennen wir uns schon, dreißig, vierzig Jahre?“ Der Präfekt hielt seinen Hut zwischen den Händen, und da die Pensionsgäste an diesem Abend im großen Salon zu Abend aßen, führte ihn der Wirt in den Hof. Die Dämmerung hatte eingesetzt, und eine Öllampe warf ihre Schatten auf die kalkweißen Wände.
    „Signor... Entschuldige, Maurizio, es hat sich viel geändert in diesen Jahren.“ Er nahm ihm Hut und Jacke ab.
    „Zum Besseren, wie ich hoffe, zum Besseren. Außerdem“ - der Prefetto zeigte an sich herunter, als ob er sagen wollte, siehst du eine Uniform, ein Abzeichen, irgend etwas, was auf Amt und Funktion hindeutet? - „das ist ein ganz privater Besuch. Sagen wir, den alten Zeiten zuliebe, den alten Zeiten.“
    Der Prefetto war ein ungewöhnlich großer Mann. Er war schwer, ohne fett zu sein, und wirkte trotz seines

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