Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
Weg. Sie festzuhalten wagte er nicht. Sie hatte einen überquellenden Papierkorb in Händen, den sie wie zum Schutz vor die Brust hielt, an sich drückte wie ein Kind. Ernst und ausdruckslos sahen sie sich an.
Schließlich sagte er: „Warum bist du gekommen?“
„Das Gleiche könnte ich dich fragen.“ Sie sprach Italienisch, und ihre Stimme klang hell und herausfordernd.
„Es ist Krieg.“ Es war keine Entschuldigung, es war eine Wahrheit, eine von vielen, und so schien dieser Satz, dieses Wort nichts zu erklären.
„Ja, es ist Krieg, der gleiche Krieg, der schon immer war.“
Er schwieg, und sein Kopf füllte sich mit den achtzehn Jahren, die vergangen waren. Er dachte, an Anne, an die Scheidung, an ihre Flucht, an den Einberufungsbefehl, den er eines Morgens in Händen gehalten hatte, verblüfft, sie könnten tatsächlich ihn meinen. Laura hatte recht, rückblickend erschien ihm dieser Krieg als eine Fortsetzung des letzten, die Zeit dazwischen nichts als ein brüchiger Waffenstillstand. Angst. Längst vergessen geglaubte Angst und neu erwachte. Angst, die nachts am Schlafen hindert und tags unruhig macht, den Herzschlag beschleunigt, den Atem nimmt. Nur jener Sommer vor achtzehn Jahren blieb wie ein leuchtender Fleck in seinem Gedächtnis. Portoclemente schien eine sonnige Insel in einem trüben, in einem hoffnungslosen Meer. Aber auch da machte er sich vielleicht etwas vor.
Irgendwann sagte sie, leiser: „Warum bist du nicht zurückgekommen?“
„Ich konnte nicht.“
Lange sah sie ihn an. Dann nickte sie. Den Papierkorb noch immer im Arm schob sie sich am ihm vorbei.
Ende November hörte der Regen auf. Mit den Bergen und dem Meer kehrte auch die übrige Welt zurück, lag scharf wie ein geborstener Stein unter dem stahlblauen Himmel, dass es in den Augen schmerzte. Die Luft war klar und durchsichtig, und als Maximilian an diesem Morgen die Fensterläden zurückschlug, um wie immer mit einem ersten Blick das Meer zu suchen, ein türkisgrüner Streifen auf dem die weißen Schaumkronen der Wellen schwammen, erblickte er zum ersten Mal den Schatten der Insel.
Zuerst meinte er eine Wolkenbank zu sehen, eine Luftspiegelung. Lange starrte er zum Horizont, der an diesem Tag einem klaffenden Spalt glich, ein sauberer Schnitt, der sich von der Spitze der Halbinsel, dort wo die Küstenfestung den Kriegshafen schützte, bis hinunter in den unsichtbaren Süden zog.
Dann war er sich sicher, der braune Streifen mit den grauen Wolkentupfen war Korsika, jenes ferne Land, das er dort draußen wusste, an diesem Tage aber zum ersten Mal sah. Aufgeregt wie ein Kind lief er zu Laura, kaum war sie eingetroffen, um ihr seine Entdeckung zu zeigen.
Flüchtig sah sie hinaus. „Weißt du, was man hier sagt? Siehst du Korsika an Santa Barbara , das ist der vierte Dezember, ziehen die Geister ein für sieben Jahr . Santa Barbara ist die Schutzheilige der Bergleute, und die Menschen sehen niemals zum Meer an diesem Tag.“ Sie schloss das Fenster. Dann lachte sie. „Nein, es heißt nur, dass es einen harten Winter geben wird.“ Prüfend sah sie zum Himmel. „Aber das ist nichts Besonderes. In den Bergen ist der Winter immer hart.“ Auf dem Weg in die Küche drehte sie sich noch einmal um. „Außerdem ist heute nicht der vierte Dezember.“
Am Abend kam Piero. Eine Angewohnheit, die er den ganzen Winter über beibehalten sollte. Er holte Laura ab, begleitete sie auf ihrem Weg zurück nach Hause, und wenn sie mit der Hausarbeit noch nicht fertig war, stand er im Flur, die Mütze in Händen, oder setzte sich auf Maximilian Einladung steif auf den Rand eines Stuhles. Manchmal trank er einen Grappa, den der Deutsche ihm anbot, oder den Rest lauwarmen Espressos, der in der Maschine auf dem Herd stand. Seitdem die Pension geschlossen und von der Militärverwaltung für das Tribunal requiriert worden war, hatte er nichts mehr zu tun. Zudem war er alt genug, um tatsächlich in Pension zu gehen. Was ihn nach Monteforte führte, ob die Sorge um die Tochter oder irgendwelche andere Aufgaben, denen er sich angenommen hatte, wusste Maximilian nicht, und Piero sprach nie darüber.
Er erschien Maximilian noch kleiner als damals. Vielleicht war es die verlorene Leibesfülle, die diesen Eindruck verstärkte, vielleicht das dünne graue Haar. Er war alt geworden, seine Haut weit und faltig, und wenn er neben der Couch stand und den Hund streichelte, dann nahm sein Gesicht dessen Ausdruck an, dann wirkte er so treu und gutmütig, wie er
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