Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
Klangteppich überzogen, fühlte sie sich erhaben und festlich, selbst wenn der Tag nur ein Werktag wie jeder andere war und die Wolken, die vom Meer das Tal hinaufgetrieben wurden, grau und nass in den Gipfeln der Berge hingen. Sie hatte einige Semester Ingenieurwissenschaften an der Universität von Pisa studiert, mehr, um sich mit irgendetwas zu beschäftigen, denn aus Notwendigkeit – für ihre spätere Tätigkeit in der Firma ihres Mannes waren ihre neuerworbenen Kenntnisse zwar nützlich, aber keine unabdingbare Voraussetzung. So war sie keine besonders fleißige Studentin gewesen. Zudem hatte sie nie die Absicht gehabt, ihre Studien mit einem ordentlichen Abschluss zu beenden. Dass sie nach Kriegsende die Ehrendoktorwürde ebendieser Fakultät erhielt, sollte deshalb nicht nur ihre damaligen Professoren überraschen.
Maurizio vergötterte sie, er verwöhnte sie mit der Hingabe eines Mannes, der weiß, dass er Schönheit nicht mit gleicher Münze bezahlen kann, und so bedachte er sie mit allerlei Aufmerksamkeiten, mit teuren Reisen und mit einem Höchstmaß an persönlicher Freiheit, die in der kleinen Stadt fast anrüchig schien, ihr aber über die ungewollte Kinderlosigkeit hinweghalf. Dafür war sie ihm treu, so treu wie jemand sein kann, der in jungen Jahren schon die vielfältigen Genüsse der körperlichen Liebe ausgiebig und mit wechselnden Partnern gekostet hat. Wenn er von ihren seltenen Seitensprüngen wusste, so ließ er sich nichts anmerken.
Pontremoli genoss den Ruf, die friedlichste Stadt der Welt zu sein. Kein Vergleich mit dem verhassten La Spezia mit ihrem kaum fünfzig Jahre alten Kriegshafen, den skrupellosen Geschäftemachern, den unmoralischen jungen Damen und den Seeleuten und Marinesoldaten, die beständig kamen und gingen, eine Schar bunt zusammengewürfelter Menschen ohne Wurzeln und ohne Tradition, die im Schatten der Schlachtschiffe und der Kanonenrohre lebten. In der ehemals freien Stadt Pontremoli dagegen machten sich die Frauen bei Einbruch der Dunkelheit auf den Weg in eine der zahlreichen Kirchen, dann folgten sie in ihren langen Röcken, in Schals und Schleier gehüllt den Orgeltönen, die jeden Winkel der Stadt erfüllten, während die Männer zu einem jener Weinkeller aufbrachen, die sich zahlreich in den Höfen der mittelalterlichen Häuser öffneten. Auch der Krieg, die Carabinieri, selbst die deutsche Bezirkskommandantur vermochten nicht allzu viel daran zu ändern.
Als Vittoria deshalb an diesem Montag die ersten Schüsse hörte, lief sie aufgeregt zum Fenster. Zuerst verstand sie nicht, was sich dort draußen abspielte, ob Partisanen die Stadt angriffen, die Deutschen oder gar die Alliierten, die täglich herbeigebetet wurden und die, je länger man auf sie wartete, immer mehr zu einem Phantom wurden, nah und doch unerreichbar. Die rückwärtige Front des Hauses ging auf die Felder hinaus, auf die Weinreben, die die Kämme der ersten flachen Hügel mit ihren Drähten und Pfählen überzogen und zu dieser Jahreszeit nackt und trostlos wirkten, den Stacheldrahtverhauen der Schlachtfelder ähnelten. Dann sah sie die Uniformierten, die einzeln oder in kleinen Gruppen zwischen den Hecken herumliefen, hörte die Schüsse, die Schreie. Zitternd und ratlos verfolgte sie das Geschehen, und als schließlich die Dämmerung heraufzog und sie sicher war, dass auch die letzten Soldaten abgerückt waren, verließ sie das Haus.
Bis in die Nacht hinein verband sie Verletzte, half den Männern leblose Körper auf die Handwagen zu hieven, folgte sie dem Jammern und Stöhnen, das aus dem dichten Gebüsch drang und das in der Dunkelheit so schauerlich klang, dass es nichts Menschliches mehr an sich hatte. Je länger sie Blutungen stillte, Knochenbrüche schiente, Platzwunden mit behelfsmäßigen Mitteln betupfte und mit Kompressen umwickelte, vieles von dem anzuwenden wusste, was ihre Mutter, die Hebamme, ihr im Laufe der Zeit beigebracht hatte, umso tiefer versank sie in diese Tätigkeit, die all ihre Aufmerksamkeit beanspruchte, die eigene Person mit ihren Wünschen und Ängsten so weit an den Rand drängte, bis sie nicht mehr spürbar war. Sie ging ganz in dem auf, was sie tat, und als dann zu später Stunde der letzte Verletzte weggebracht worden war, fand sie sich auf einem Stein sitzend wieder, ihr Kleid blutig und verschmutzt, ihre Hände von den Dornen der Brombeersträucher zerkratzt. Sie war erschöpft, aber ruhig. Und sie war zufrieden, so zufrieden mit sich wie jemand, der
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