Die Nacht wird deinen Namen tragen (German Edition)
glaubt, zum ersten Mal in seinem Leben etwas uneingeschränkt Sinnvolles getan, eine Leistung vollbracht zu haben, die weder die Zeit noch irgendein Gedanke schmälern kann.
Noch immer saß sie auf dem Stein, zitterte vor Kälte, ohne es zu merken, und als der junge Mann neben ihr stand, der ihr schon den ganzen Abend bei der Versorgung der Verletzten zur Hand gegangen war, nahm sie eine der kostbaren Zigaretten, die er ihr anbot. Sie rauchten schweigend. Der abnehmende Mond fiel auf die Felder. Ansonsten war es dunkel. Aus dem nahen Dorf drang kein Lichtspalt.
Er heiße Franco. Sie hatten nicht einmal Zeit gehabt, sich einander vorzustellen. Dann erzählte er von der Brigata Barudda , der er angehöre, und sie lachte, weil Barudda eine Puppe war, die sie vom Marionettentheater her kannte, eine lustige Gestalt, die in den seltsamsten Verkleidungen urplötzlich aufzutauchen pflegte. Dann schrie sie perdingolina!, und die Kinder brüllten vor Lachen. Franco beeilte sich zu versichern, dass es eine Brigade solchen Namens tatsächlich gebe. Er wurde ernst. Sie könnten eine fähige Ärztin gebrauchen, dringend sogar. Sie erwiderte verlegen, sie sei nicht einmal Krankenschwester, sondern Ingenieurin, und auch das nicht wirklich. Dann müsse man sie eben holen, wenn die nächste Brücke an der Reihe sei. Wieder lachten sie. Nein, tatsächlich, sie könnte ihnen wirklich sehr helfen.
Er brauchte sie nicht zu überreden. Vielleicht war es die Erfüllung gewesen, die sie an diesem Tag in ihrer traurigen Tätigkeit erlebt hatte, vielleicht der Schock, den die unwürdige Menschenjagd in ihr ausgelöst hatte, das Gefühl, nicht mehr abseits stehen zu können in ihrem goldenen Käfig angesichts des Krieges, der sich bis an ihr Fenster gewagt hatte. Vittoria hatte nicht die Absicht in den Bergen bei den Männern zu leben, sie käme aber, bekräftigte sie, wann immer man sie brauchte. Dass sie bei der Brigata Barudda ihren Bruder und ihren Neffen treffen sollte, das wusste sie nicht.
Stefano lebte schon seit einigen Wochen in den Bergen. Er dachte oft an seine Familie, an seine kleine Tochter Annalisa, die er in der Stadt zurückgelassen hatte. Aber seitdem der alte Vincenzo mit dem vollständigen Verzeichnis der Mitglieder des örtlichen Widerstandskomitees in der Hand – ein in Leder gebundenes Bändchen, in dem in Schönschrift Namen und Adressen von dreiundsechzig Personen verzeichnet waren – beim Ausspionieren der Kaserne der Carabinieri in der Via Marittima festgenommen worden war, war niemand mehr sicher. Viele wurden verhaftet, einigen gelang es zu fliehen. Im letzten Augenblick hatte Stefano sich aus einem Fenster in die Freiheit retten können.
Mehr als alle Kriege zuvor, war es ein Krieg der alten Männer, und Stefano fühlte sich alt, auch wenn er noch nicht einmal vierzig war. Er fühlte sich alt, wenn er auf dem harten Boden schlief und ihn am nächsten Tag das Kreuz schmerzte, er fühlte sich alt, wenn er im Eiltempo mühsam schnaufend von einem Dorf ins andere rannte, die steilen gewundenen Eselspfade hinauf und hinunter, oder wenn er abends mit steifen Gelenken in einem zugigen Stall fror und sein Magen knurrte, das Ungeziefer ihn aufzufressen drohte.
Schon lange lebten sie nicht mehr bei den Bauern, hatten sie kein Bett von nahem gesehen. Seit den Säuberungsaktionen im Januar hatte sich ihr Verhältnis zur Bergbevölkerung merklich abgekühlt. Nachdem die ersten Höfe gebrannt, manch ein Widerständler in den Ästen eines Nussbaumes gebaumelt hatte, ging die Angst um. Man brachte ihnen zwar nach wie vor Lebensmittel, versorgte sie mit Neuigkeiten oder gewährte ihnen Unterschlupf in einem abseits gelegenen, verfallenen Gemäuer, in den Dörfern dagegen sollten sie sich am besten nicht blicken lassen. Je weniger man mit den Partisanen in Verbindung gebracht wurde, desto besser. Schließlich gab es Spitzel, und wenn die Carabinieri oder die Schwarzhemden kamen, schienen sie genau zu wissen, an welche Tür sie zu klopfen hatten.
Die Brigata Barudda war anders als andere Brigaden. Sie stand weder unter dem Einfluss der Sozialistischen noch der Kommunistischen Partei, sie war nicht so gut ausgerüstet wie die Internationale Brigade des Engländers Lewis und schon gar nicht so streng militärisch gegliedert wie die Mazzinianischen Brigaden, die sich überwiegend aus ehemaligen Angehörigen des Heeres zusammensetzten. Sie nannten sich unabhängig, manchmal auch anarchistisch, und hätten sich zweifellos einen
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